Begegnung mit Großvater Sand

„Hört, Kinder der Gemeinschaft, die Geschichte von Thul’Vara, dem Nebelstolperer, und wie er die Bekanntschaft mit Großvater Sand machte, dem Hüter der ewigen Wüste!

Der Wind trug Thul’Vara und seinen Kundschaftertrupp von Thul’Kāla’Tāri aus westwärts, wo er Ungewissheit über ehemalige Nachbarn seiner Heimat aufzuklären gedachte. Eines Abends, gerade als sie ein Lager aufschlagen wollten, fanden Sie eine Siedlung vor. Doch nicht, wie es das Gesetz der Wüste forderte, öffnete man ihnen in Gastfreundschaft die Zelte – kein Ton war zu hören aus den Behausungen, die ohne Zweifel bessere Tage gesehen hatten, doch ebenso ohne Zweifel bewohnt schienen. Eisiger Wind der beginnenden Wüstennacht pfiff durch die leeren Gassen und trug den Gestank von Tod und Verwesung mit sich – und den unverwechselbaren Geruch nach Asche.

Weil aber die Weisheit die bessere Schwester des Mutes ist, machten sie Halt und beobachteten rastend das Schauspiel – und dann sahen sie sie: Geisterhafte Schemen in größerer Anzahl noch als sie ihre Heimat belagert hatten, schlichen um das Dorf, dessen Bewohner sich zu ihrem Schutz in ihren Behausungen verschanzt hatten. Wut und Mitgefühl erfüllten Thul’Varas Herz, und entgegen aller Vernunft, waren es doch viel mehr der Geister, als er Kundschafter mit sich führte, griff er seinen Speer fester und sprach: >>Der Spottname, den sie mir eingebracht haben, werden die Geister des Nebels noch bitter bezahlen. Ihr greift sie unter großem Lärm an, und ich werde sie umgehen und den Eingeschlossenen künden, dass ihre Rettung naht, wie Arinai’Tor eins uns unsere Freiheit brachte.<<

Seine Gefährten, erfahrene Späher und zähe Wüstensöhne, versuchten ihn zu beruhigen. >>Thul’Vara,<< sagte der älteste von ihnen, seine Stimme rau vom Wüstensand, >>wir sind nur ein kleiner Trupp. Die Geister sind zahlreich und tückisch. Es wäre Wahnsinn, sie anzugreifen. Lass uns Verstärkung aus dem Schoß der Gemeinschaft holen.<< >>Ich kenne keine Furcht<<, erwiderte Thul’Vara. >>Ich werde nicht ruhen, bis diese Bestien vernichtet sind. Wer mit mir kommt, der folge mir. Wer nicht, der kehre mir und unserer Gemeinschaft den Rücken. Doch will ich Eurem Rat vertrauen: Nicht werde wir unsere Stärke aufteilen, sondern vereint die Geister austreiben.<<

Einige der Kundschafter zögerten, doch schließlich folgten sie alle ihrem Anführer. Der Wunsch, ihren Helden zu unterstützen und die Erinnerung an das Grauen, das die Geister über das Dorf gebracht hatten, überwog ihre Furcht. Nebel zog auf, dicht und kalt, wie ihn die Wüste und ihre Kinder nicht kannten. Er schluckte jedes Geräusch und hüllte die Welt in ein unwirkliches Schweigen. Die Kundschafter bewegten sich langsam und vorsichtig vorwärts, ihre Augen suchten die Umgebung ab, das Ziel, die Siedlung, stets vor Augen. Doch sie waren wenige, und die ungewohnten Bedingungen schwächten ihre Sinne, so dass die den Angriff der Geister erst zu spät bemerkten.

Einer nach dem anderen fielen Thul’Varas Gefährten. Ihre Schreie wurden vom Nebel verschluckt, ihre Körper verschwanden im Dunkel. Bald war Thul’Vara allein, umzingelt von den Nebelgeistern. Er kämpfte mit der Verzweiflung eines Mannes, der alles verloren hat. Seine Bewegungen waren wild, sein Speer war ihm Schutz und Waffe zugleich. Doch die Geister waren zu viele. Sie überwältigten ihn, rissen ihn zu Boden und zerrten an ihm. Alsbald verlor er das Bewusstsein.

Als er erwachte, so berichtete er später, traute er seinen Augen nicht. Nicht nur, DASS er erwachte, war Grund dafür, sondern auch, was er sah. Der Nebel war gewichen, und feiner Sandstaub lag in der Luft, die weder die Hitze des Tages noch die Kälte der Nacht zu besitzen schien. Schlurfende Schritte glaubte er zu hören, dann sah er die Gestalt: Gebeugt von vielen Weltenläufen, mit zerschlissenem Gewand, mühte er sich durch den Sand und beugte sich zu Thul’Varas gefallenen Freunden herab. >>Wage es nicht, sie zu berauben! Sie haben tapfer gekämpft!<< rief der junge Krieger aus. Wie das Reiben von Sand zwischen Lederbahnen erklang das Lachen des Fremden, der weiter einen der Gefährten nach dem anderen aufsuchte, sich zu ihm niederbeugte und ihm beinahe zärtlich die aufgerissenen Augen schloss, bevor er etwas einzustecken schien.

>>Du selbst hast auch tapfer gekämpft, junger Thul’Vara<<, sagte eine Stimme, trocken und raschelnd wie Wüstensand. >>Doch ich bekomme sie alle.<< Thul’Vara öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines alten Mannes. Seine Haut war faltig und ausgetrocknet wie die Erde nach einem langen Sommer, sein schwarzes Gewand zerfetzt und von Staub bedeckt. Aus den Rissen rieselte unaufhörlich Sand, mehr als dort jemals hätte sein können, egal wie lang und stürmisch der zurückgelegte Weg durch die Wüste gewesen sein mochte. Er schien sich rund um ein Stundenglas zu sammeln, das Alte scheinbar achtlos auf dem Boden hatte liegen lassen.

>>Wer bist du?<<, flüsterte Thul’Vara. >>Ich bin der Hüter der ewigen Wüste<<, entgegnete der Alte. >>Derjenige, der die Seelen der Toten in seine Obhut nimmt. Du bist nicht bereit, mir zu folgen, junger Krieger. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht auch die eine oder andere, wen kümmert das schon? Doch vorerst musst Du ruhen. Nimm Dir dann, wenn ich Dir raten darf, die Vorräte Deiner Männer – sie brauchen sie nicht mehr, und ohne sie sehe ich Dich zu bald wieder.“ Nach diesen Worten erklang wieder das trocken-staubige Lachen, und Thul’Vara schwanden erneut die Sinne.

Als er erwachte, lag er allein in der Wüste, der Nebel war ebenso verschwunden wie Großvater Sand. Die Sonne brannte auf seine Haut, und eine Spur im Sand verriet, dass er sich mit letzter Kraft vom Ort ihrer Niederlage fortgeschleppt haben musste. Seine Gefährten waren tot, ihre Seelen in Großvater Sands Obhut. Geschlagen kehrte er zurück in die Heimat, um sich zu sammeln.

Vergesst niemals, Kinder: Der Tod ist nicht das Ende. Fürchtet ihn nicht, sondern begreift ihn, den Unbegreiflichen, als Teil des ewigen Kreislaufs der Wüste. Auch die Tapfersten entkommen ihm nicht, und auch der Reichste wird ihm eines Tages Tribut zollen. Großvater Sand wartet auf uns alle.“

Geschichtenerzähler der Sāndari’Māna, neuzeitlich, kurz vor seinem ungeklärten Verschwinden

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