Während wir es gewohnt sind, dass sich der Rat der Zwerge beim allmonatlichen Festmahl nicht mit dem Brot des einfachen Volkes zufrieden gibt und es schon Tradition ist, dass die verschiedensten Delikatessen zubereitet werden, hat unser neuer König dieses Mal eine Grenze überschritten, die selbst die Altvorderen nicht überschreiten würden. Die Rede ist von einem Eishirsch – einem Wesen von solch seltener Anmut und tiefer Symbolik, dass allein die Vorstellung seiner Jagd ein Schaudern über den Rücken eines jeden ehrenhaften Bewohners unserer kalten Heimat jagt.
Der Eishirsch ist kein gewöhnliches Wild. Seine Hörner, durchzogen von einem glitzernden Frostschimmer, sollen in der Morgensonne leuchten wie ein Widerschein vergessener Sterne. Sein Fell ist von strahlendem Weiß, nahezu durchsichtig, als wäre das Tier selbst ein Teil des Eises und des Schnees, der es umgibt. Es heißt, der Eishirsch sei von den Göttern geschickt, um über die endlosen Weiten des Nordens zu wachen und den eisigen Kreislauf des Lebens zu ehren. Einige unserer Ältesten erzählen gar, dass, solange der Eishirsch durch die Lande streift, der Winter nie ganz über uns hereinbricht und das Frühjahr sich immer wieder seinen Weg bahnt. Ein Wächter, der nicht besiegt werden sollte – und doch schickt der König seine Jäger, als wäre es nichts als eine seltene Beute.
Wie ist es dazu gekommen, dass das Fleisch dieses heiligen Wesens nun den königlichen Tisch schmücken soll? Es wird gesagt, der König habe ein Gerücht von der angeblichen „Wärme und Kraft“ gehört, die das Fleisch eines Eishirsches verleihe. Doch was er nicht begreift – oder schlicht nicht begreifen will – ist, dass dieses Tier mehr ist als eine Mahlzeit. Es ist ein Symbol für das Leben und das Gleichgewicht in dieser frostigen Einöde, das den Eiszwergen und allen, die hier überleben, Kraft spendet.
Für die, die in der Kälte des Winters und im Schatten der Macht leben, ist der Eishirsch kein schieres Stück Wild, sondern ein Zeichen, dass auch in den widrigsten Bedingungen Schönheit und Reinheit existieren. Wir alle wissen, dass das Leben hier hart ist, dass Nahrung knapp sein kann und dass oft das Überleben Vorrang hat vor den Göttern. Doch dieser Frevel geht zu weit. Es ist nicht der Hunger, der den König treibt, sondern seine Gier und seine Selbstherrlichkeit.
Nun wird der Hirsch nicht länger durch die Wälder streifen und seine Hufe nicht mehr über gefrorene Bäche und verschneite Lichtungen klingen lassen. Sein Leuchten wird nie wieder das Zwielicht erhellen, das sonst die Stille der Berge belebt. Stattdessen wird er in Stücken zerlegt und ohne den geringsten Respekt den Mäulern jener zum Fraß vorgeworfen, die keinen Bezug zu ihm haben. Ein wahrer Verlust für unsere Heimat.
Während die königlichen Gemächer den Duft eines Festmahls verströmen, spüren wir hier unten nur die Kälte. Der Eishirsch, das sagen viele, wird uns fehlen. Und wenn der kommende Winter härter und kälter wird, werden die Ältesten erneut warnen. Wir wissen alle: Man kann einem Land nicht endlos seine Seele rauben, ohne dass es irgendwann zurückschlägt.
~ Eine Bewohnerin der 4. Ebene von Eisschmiede