„Hört, ihr Weisen, die Geschichte von Kiran’Sol, dem Strahl des Lichts, der Hoffnung und ein Ziel bringt! Wie der Wind über die Dünen fegt, so trieb ihn sein Mana, seine Seele, immer weiter hinauf in das Gebirge Arai’Shan und dorthin, wo die Gipfel in die Wolken stechen und die Luft so dünn ist, dass ihm und seinen Begleitern im Kopfe war, als haben sie nach Wochen des Darbens in der Wüste seinen gesamten Durst mit dem vergorenen Saft der Kristallkateen gestillt. Beschwerlich war der Aufstieg, das Geröll löste sich unter seinen Füßen, doch Vetter Wind, der schelmische Gott, war ihm hold und führte ihn sicher über steile Pfade.
Dort oben, wo die Sonne mit ungeminderter Kraft auf die nackten Felsen scheint, stieß Kiran’Sol auf ein Wunder: Eine Quelle, aus der klares, reinstes Wasser sprudelte. Kāla’Arai, der wilde und ungezähmte Wassergeist, hatte hier seinen Segen hinterlassen, als Vetter Wind ihn zu Anbeginn der Zeiten in unsere Wüste gelockt hatte. An diesem Ort, so spürte Kiran’Sol, herrschte eine Ruhe und Kraft, die selbst die Fallwinde von den stürmischen Höhen von Arai’Shan besänftigte.
>>Hier<<, sprach Kiran’Sol zu seinen Begleitern, >>soll ein Schrein für Kāla’Arai errichtet werden, ein Ort des Gebets und der Dankbarkeit.<< Er labte sich an dem kalten Wasser und ließ alsbald nach Baumeistern aus Lunai’Kareth, dem Fuß der Himmelsstiege, schicken.
>>Sollen wir nun das heilige Wasser auf seinem Weg ins Tal verfolgen?<< überlegte der Strahl des Lichts. >>Sollen wir uns weiter als je zuvor ein Mitglied unserer Gemeinschaft zuvor von der Heimat entfernen und dem Lockruf des Wassers folgen?<<
Doch auch der launische Vetter hatte eigene Pläne mit ihm. Er flüsterte Kiran’Sol von einem Land jenseits der Berge zu, von einer weiten Steppe, die den Sandari’Māna fremd war. Kiran’Sols Mana war erfüllt von Sehnsucht, zog ihn dorthin – er spürte, dass Vetter Wind ihm neue Abenteuer und Herausforderungen zeigen wollte.
Zwei Wege lagen vor ihm, beide voll der Verheißungen. Lange stand Kiran’Sol und blickte auf die beiden Pfade, die sich vor ihm erstreckten. Schließlich, nach langem Grübeln sprach er: >>Hört meine Worte. Wir wollen den Gott und den Geist auf die Probe stellen und ihrem Urteil folgen: Vetter Wind hat uns bis hierher geführt, daher gebührt ihm die erste Gelegenheit: Wir wollen einen Kundschafter in das Land entsenden, das er uns verheißen hat. Was er aber am dritten Tage erblickt, das soll er mitbringen, und daran soll gemessen werden, ob wir Vetter Wind oder Kāla’Arai vertrauen sollen, was die weitere Reise angeht.<<
Als der Kundschafter wiederkam, da leuchteten seine Augen mehr noch als sonst und eifrig berichtete er von großen Tieren, derer er freilich nur aus der Ferne ansichtig geworden war. Von saftigem Grün, wie es sonst nur am Rande der Wasserlöcher der Wüste zu finden war und von Erde, die die Samen der Pflanzenwelt nicht bis zum nächsten Regen bewahren musste, sondern sie früher keimen und wachsen ließ. Doch als er gefragt wurde, was der dritte Tag ihm beschert habe, da wurde er still. >>Ich habe keine Worte für das, was ich fand, noch konnte ich es mitbringen – zu groß war es. Doch muss es eine Pflanze gewesen sein, die in den Himmel ragte und die eine Graslandschaft in den Himmel reckte. Ein Tier muss ich an ihr gütlich getan haben, denn sie blutete und ihr klebriges, honigfarbenes Blut quoll aus den Fraßwunden hervor. Sein Duft wird von Arai getragen und schmeichelt der Nase mit fremdartigem Wohlgeruch.<<
>>Dies ist<<, so sprach einer der älteren unter Kiran’Sols Begleitern, >>ohne Zweifel ein Baum, dessen Bild Du mit Worten zeichnest. Er liefert neben jenem Nektar auch Holz, das Zelte stützt und Feuer nährt wie der Mist unserer Tiere. Ich habe davon gehört, wenn auch nicht von dieser besonders dem Vetter gefälligen Art.<< >>Dann ist es entschieden<<, seufzte Kiran’Sol erleichtert, nun, da die Last der Entscheidung von ihm genommen war. >>Nach Norden in die Steppe werden wir ziehen, denn Holz und jener Baumhonig sind es wohl wert, unserem Volk gebracht zu werden. Sobald ich die Geheimnisse jener Steppe aber erkundet habe – und meldet dies den Ältesten<<, versprach er, >>werde ich nach Shānti’Kāla zurückkehren und dem Rat Bericht erstatten, sofern nicht Vetter Wind eine neue Aufgabe für mich bereithält.<<
Diese Worte sendet Euch durch mich Kiran’Sol, der Strahl des Lichts, während er und seine Begleiter in die Steppe aufbrechen.“
Bericht der Geschichtenerzählerin Ina’Kāla’Arai vor dem Rat der Ältesten, neuzeitlich