Die Stimme des Berges

Aus dem persönlichen Tagebuch von Grinor Feuerbart

Die Dunkelheit war allumfassend und schwer wie der ewige Nebel, der unser Land schon seit Jahrhunderten gefangen hielt. Nur die flackernden Fackeln spendeten ein wenig Licht und ließen unsere Schatten auf dem Felsen tanzen. Mit jedem Schritt in die Tiefe schien die Luft kälter und dicker zu werden und das Schweigen der Männer und Frauen um mich herum war ein Zeugnis dafür, dass auch sie die Anspannung spürten, die in diesen Gängen lag. Es war schwer, die Zeit in diesen Tunneln zu messen. Unsere Schritte auf dem harten Stein waren die einzigen Töne, die das unheimliche Schweigen durchbrachen. Doch irgendetwas trieb mich und die anderen voran – ein Gefühl, das uns veranlasste, unsere Fackeln und Pickel zu nehmen und uns in diese vergessenen Gänge zu wagen. Es war, als würden die Geschichten unserer Vorfahren, die alten Lieder, uns den Weg flüstern. „Grinor, siehst du das da vorne?“ flüsterte Gharol, ein junger, kräftiger Zwerg, der mit einer Fackel einige Schritte vorausging. Er blieb stehen und deutete auf eine Reihe von Kratzern an der Wand – Spuren, die wohl vor langer Zeit von den Werkzeugen unserer Ahnen hinterlassen worden waren. Die Linien und Zeichen zogen sich wie kleine Narben über den Stein und erzählten von einer Zeit, als die Minen noch in voller Blüte standen. „Ich sehe es, Gharol.“ murmelte ich und schritt näher. Die Linien waren glatt, fast zu glatt für gewöhnliche Spitzhacken und es kam mir vor, als würden sie uns eine Richtung weisen. Es gab Gerüchte, dass die alten Bergleute hier Zeichen hinterlassen hatten – eine Art verstecktes System, um den Weg zu besonderen Kammern und Hallen zu markieren, falls man sich im natürlichen Labyrinth der Tunnel verirren sollte. Wir alle hatten die gleichen Geschichten gehört, die gleichen alten Lieder, die von Orten erzählten, an denen die Geister unserer Ahnen noch immer wachten. Und doch war dieser Gedanke kaum mehr als ein Funke in der Dunkelheit, etwas, das uns antrieb, selbst wenn wir die Wahrheit nicht erahnen konnten. Wir setzten unseren Weg fort, tiefer und tiefer in den Berg. Mit jeder Biegung schien die Luft noch schwerer zu werden, der Boden unter unseren Füßen härter, als würde uns die Erde selbst warnen, umzukehren. Doch es gab kein Zurück mehr – nicht, nachdem wir so weit gekommen waren. Die Kratzer an den Wänden wurden dichter, klarer und manchmal, wenn ich die Augen zusammen kniff, konnte ich Muster darin erkennen – Muster, die wie Runen oder Symbole wirkten, die uns den Weg zu etwas bedeuteten. „Hier unten schlummert etwas. Vielleicht ist es nur die Erinnerung an unsere Ahnen, vielleicht mehr. Doch wenn wir uns umdrehen, könnten wir die Antwort verpassen.“ Gharol trat näher und in seinen Augen lag nun weniger Angst und mehr Neugier. „Denkst du, dass die Halle wirklich hier unten liegt, Grinor? Dass wir – dass wir die Ersten sein könnten, die sie nach all diesen Jahren wiederfinden?“ Ich lächelte, doch meine Antwort war nicht mehr als ein Flüstern. „Vielleicht, Junge. Vielleicht.“ Die Stille in der Gruppe war drückend, doch wir setzten unsere Schritte fort. Es gab keinen Weg zurück, nicht jetzt. Jeder Schritt schien uns tiefer in die Geschichte unserer Vorfahren zu führen, als würden wir uns in einem alten Lied bewegen, das darauf wartete, vollendet zu werden. Die Kratzer an den Wänden wurden bald von feinen Rissen begleitet und an einer Stelle glitzerte ein Hauch von Metall, eingewoben in den Fels, so als hätte jemand vor Urzeiten eine Spur hinterlassen. Und dann, plötzlich, blieb Gharol erneut stehen und hob die Hand. „Hört ihr das?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, doch die ganze Gruppe blieb sofort stehen und lauschte. Da war es – ein kaum wahrnehmbares Geräusch, ein leises Vibrieren, das aus der Tiefe des Berges zu kommen schien. Es klang wie ein Echo, als würde etwas Großes und Schweres weit entfernt bewegt werden. „Was ist das?“ fragte einer der Männer hinter mir. „Es hört sich an, als würde der Berg selbst sprechen.“ Ich konnte nichts darauf erwidern, denn in mir kämpften zwei Gefühle gegeneinander: die Spannung eines Entdeckers und die Angst vor dem Unbekannten. „Kommt, wir gehen weiter.“ flüsterte ich schließlich und führte die kleine Truppe voran. Das leise Vibrieren schien uns zu begleiten, ein Pulsieren, das immer deutlicher wurde, je weiter wir gingen. Irgendetwas wartete dort unten auf uns. Das Vibrieren wurde stärker, ein tiefes, dumpfes Echo, das von den Wänden zurückgeworfen wurde und sich wie eine dunkle, unsichtbare Flut durch die Tunnel ausbreitete. „Grinor…“, flüsterte eine Stimme hinter mir – eine der Frauen, die als Schmiedin unter uns war und ihre Fackel nun etwas fester umklammerte. Ihre Augen waren wachsam, ihre Schritte vorsichtig und ich konnte sehen, wie die anderen sich ebenfalls auf die Schatten konzentrierten, die das Licht unserer Fackeln auf den Wänden tanzen ließ. „Ja, ich höre es auch“, antwortete ich, meine Stimme ebenfalls kaum mehr als ein Flüstern. „Es klingt, als wäre etwas… erwacht.“ Wir gingen weiter, Schritt für Schritt, in diesem uralten Rhythmus des Berges. Das leise Vibrieren begleitete uns, mal stärker, mal schwächer, doch stets vorhanden, wie eine unsichtbare Kraft, die uns tiefer in den Bauch des Berges zog. Der Fels um uns herum war rauer geworden, unregelmäßiger und ich bemerkte, dass die Spuren an den Wänden nun noch deutlicher zu erkennen waren. „Was, wenn das alles eine Warnung ist?“ fragte Gharol plötzlich und blieb erneut stehen. Die anderen hielten inne und sahen mich erwartungsvoll an, ihre Gesichter im flackernden Fackellicht nur undeutlich zu erkennen. „Ich habe Geschichten gehört“, fuhr Gharol fort und seine Stimme zitterte leicht. „Von alten Orten, die mit Fallen gesichert sind. Damit keine lebende Seele jemals wieder einen Fuß hineinsetzt.“ Ich sah ihm in die Augen und hinter seiner Angst sah ich auch das Feuer des Mutes. „Vielleicht hast du recht, Gharol,“ sagte ich leise. „Aber diese Zeichen könnten auch etwas anderes bedeuten. Vielleicht zeigen sie uns den Weg. Vielleicht ist es keine Warnung – sondern eine Art Karte.“ Die anderen schwiegen. Ich wusste, dass meine Worte ihnen Mut geben sollten, doch auch ich spürte die Kälte des Zweifels, die mir in die Knochen kroch. Es gab Geschichten von diesen Gängen, alte Erzählungen, in denen davon berichtet wurde, dass der Berg selbst Geheimnisse bewachte, die er nicht bereitwillig preisgab. Wir gingen weiter. Der Boden unter unseren Füßen veränderte sich allmählich und der Tunnel verengte sich und öffnete sich wieder, fast wie der Rhythmus eines atmenden Wesens. Das leise Dröhnen wurde plötzlich lauter und wir blieben alle stehen, als wir einen Klang hörten, der uns den Atem stocken ließ. Ein leises Schleifen, fast wie das Kratzen von Metall auf Stein, drang aus der Dunkelheit vor uns. „Da ist etwas“, murmelte ich und schob mich vorsichtig an den anderen vorbei. Ich hob die Hand, um die Gruppe zum Schweigen zu bringen und lauschte, mein Herz pochte wild. Das Geräusch ebbte ab, doch der leise Puls blieb und mit einem letzten Blick auf die Gruppe entschloss ich mich, weiterzugehen.

Niedergeschrieben von Grinor Feuerbart
Davararischer Liederschmied des Reiches Nor’Davara.
In einer Zeit vor der Dämmerung

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