Annäherung an die Türme
Tagelang folgte die Gruppe junger Vila der alten Chaussee, die sich wie eine verwitterte Schlange durch die dichten Wälder wand. Der Pfad führte sie unerbittlich hinauf zum Bergpass. Jeder Schritt war eine Herausforderung; die Steinplatten der Straße waren alt und brüchig, oft verschoben oder von knorrigen Wurzeln angehoben. Manchmal fehlten sie ganz, und die Gruppe musste sich ihren Weg durch dichtes Gestrüpp bahnen, das die Straße überwucherte.
Je weiter sie vorankamen, desto häufiger hingen Schwaden des unheilvollen Nebels im Wald, und die Kälte kroch ihnen in die Glieder. Die Geräusche des Waldes wichen einer gedämpften Stille. Einmal glaubte Zhanna, ein Röcheln zu hören – ein leises, rasselndes Atmen, das ganz nah aus dem Nebel zu kommen schien. Doch da war nichts, nur die Schatten der Bäume, die sich im leichten Wind wiegten.
Während sie lagerten, fanden sie kaum Schlaf. Die Nächte waren erfüllt von unruhigen Träumen und dem Gefühl, beobachtet zu werden.
Am dritten Tag begann die Straße langsam anzusteigen. Die Bäume und auch der Nebel wurden weniger
und wichen Felsen und niedrigen Büschen. Hinter und unter sich blickten sie auf die schier endlosen Nebelwälder, während sich die Chaussee in Serpentinen die gewaltigen Berge heraufschlängelte. Über
allem lag ein grau verhangener Himmel, und es pfiff ein schneidender Wind.
Die Straße wurde zunehmend schlechter – teils führte sie über steinerne Brücken, teils hatten Felsrutsche sie in die Tiefe gerissen, sodass sie über lose
Geröllfelder balancieren mussten. Immer wieder zogen Nebelschwaden den Berg hinauf, und die Gruppe musste vorsichtig sein, um nicht den Halt zu verlieren oder zu weit vom Weg abzukommen.
Schließlich erreichten sie eine letzte, steile Biegung der Chaussee. Und vor ihnen, zu ihrer Rechten und Linken: Zwei enorme Türme, die majestätisch über der Berglandschaft ragten. Wie seltsam sie anmuteten: Aus den verwitterten Steinen der Türme ragten
metallische Strukturen hervor – schwere Ketten hingen an massiven Ankerpunkten – als hätten sie einmal etwas Riesiges gehalten, das hier angelegt hatte.
Und noch etwas nahmen sie wahr: Ein Dröhnen, als ob etwas Mächtiges, Metallisches gegen den Fels schlug. Immer und immer wieder.
Zhanna blickte besorgt zu Borislav, der seinen Blick starr in die Richtung des Geräusches gerichtet hielt.
„Was könnte das sein?“, fragte Tihomir leise, die Nervosität in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Was auch immer es ist,“ erwiderte Borislav grimmig und zog sein Schwert etwas fester an sich heran.
„Ich habe so etwas noch nie gehört.“
Zhanna nickte langsam, ihre Augen blieben auf die Schatten gerichtet, die sich unruhig in der Ferne bewegten. „Wir müssen vorsichtig sein,“ sagte sie, ihre
Stimme klang fester als sie sich fühlte. „Wenn es ein Ungeheuer ist oder eine Maschine, die die alten Vila hier hinterlassen haben, könnte es gefährlich sein.“
Tihomir, dessen Neugier stärker als seine Angst war, trat einen Schritt näher an den Rand des Pfades. „Was, wenn es eine alte Apparatur ist, die noch funktioniert?“ Seine Augen funkelten, trotz der beklemmenden Atmosphäre.
„Oder es ist eine Falle,“ brummte Borislav. „Etwas, das unerwünschte Eindringlinge davon abhalten soll, weiterzugehen.“
Eine unerwartete Entdeckung
Sie gingen vorsichtig weiter und als sie die Türme fast erreicht hatten, merkten sie, dass diese als höchste Punkte über einer steilen Klippe thronten.
Direkt hinter ihnen: ein Abgrund und unten ein dichtes Nebelmeer, das bis an den Horizont reichte.
Die Nebelschwaden wirkten jedoch anders als der bekannte Aschenebel oder gewöhnlicher Nebel von den Bergen. Er hatte eine karmesinrote Färbung und waberte ununterbrochen.
Doch noch etwas sahen sie – und es verschlug ihnen den Atem: Mitten im Dunst unter ihnen ragte etwas aus dem Nebelmeer hervor – ein längliches metallisches Ungetüm, sicher 200 Schritt lang, mit einem gewaltigen Bauch aus rostigen Stahlplatten. Einst von den dicken, nun rostigen Ketten von den Türmen gehalten, hing es halb abgestürzt an der Felswand des Abgrundes.
Dies war ein Schiff, keine Frage. Und was für eines!
Aus der Seite klafften Löcher, aus denen teilweise zerbrochene Geschütze ragten. Die Gruppe betrachtete das Zeugnis der verlorenen Macht der Vila und Relikt einer längst vergangenen Ära mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Furcht.
„Bei den Ahnen,“ stieß Zhanna hervor. „Die Legenden hatten recht! Was dort im Nebel liegt, ist ein Luftschiff der Alten!“
Tihomir konnte seine Begeisterung kaum verbergen. „Wir müssen sofort dort hinabsteigen!“ rief er in voller Aufregung. „Wenn wir herausfinden, wie dieses Luftschiff betrieben wurde, könnten wir die alte Technologie zurückbringen!“
„Wir werden alle vier herabsteigen,“ entschloss Zhanna. „Dazu sind wir hier.“
Der Abstieg ins Nebelmeer
Zhanna war die Erste, die die gewaltige rostige Kette ergriff und begann, langsam und vorsichtig hinabzuklettern. Der Abstieg war gefährlich; einige Nebelschwaden waren so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah, und die Ketten waren kalt, feucht und brüchig. Dann drohte ein sich bewegendes Kettenglied ihr beinahe die Hand einzuquetschen.
Je weiter sie hinabstiegen, desto dichter wurde der rötliche Dunst, der nach Eisen und Schwefel und etwas Unbekanntem roch und ein leichtes Brennen in der Lunge verursachte. Das Atmen wurde langsam unangenehm und fiel ihnen zunehmend schwer.
Der Abstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. Immer näher kam das gigantische, metallische Luftschiff wie ein Monstrum aus einer anderen Welt. Seine gewaltigen Platten, mit Rost wie Narben auf seinem alten Körper, klangen im Wind, und die massiven metallenen Verbindungen und Streben, die es durchzogen, gaben ein mechanisches Knarzen und Ächzen von sich. Man konnte kaum glauben, dass dieses Ding einst die Himmel beherrscht hatte.
Dann endlich hatten sie das Deck des Schiffs erreicht. Der Boden war von einer rutschigen Moosschicht bedeckt, und der Rost hatte sich überall eingenistet. Die Schatten der alten Geschützluken wirkten wie dunkle Augen, die auf sie herabblickten.
Sie konnten den rasselnden Atem der anderen in der kühlen, feuchten und vom Dunst schwangeren Luft hören, als Borislav und Tihomir ebenfalls das Deck erreichten. Milena folgte als Letzte, ihre Bewegungen waren ruhig und konzentriert.
„Bleibt wachsam“, raunte Zhanna, ihre Augen wanderten über die rostigen Überreste. Tihomir hingegen war kaum zu halten, er schritt eilig weiter, seine Augen funkelten vor Begeisterung. „Schaut euch das an“, rief er über die Schulter. „Vielleicht haben wir Glück, und irgendetwas ist noch funktionstüchtig!“
Zhanna und Borislav tauschten einen kurzen Blick aus, bevor sie ihm folgten. Es fühlte sich falsch an, zu laut, zu aufgeregt in dieser Atmosphäre, in die sie nicht gehörten. Der Nebel kroch ihnen um die Beine und tauchte das alte Wrack in eine bedrückende Kälte und ein blutrotes Zwielicht. Dann hörten sie es – ein leises Flüstern, das aus den Tiefen des Schiffs zu kommen schien. Ein Geräusch, das an das Murmeln eines unsichtbaren Wesens erinnerte.
„Hört ihr das?“, flüsterte Borislav. Zhanna nickte.
„Es ist, als ob der Nebel… spricht.“
Das Herz des Schiffes
Sie schlichen durch die alten Gänge des Luftschiffs, Tihomir voran, immer tiefer in das dunkle Herz des Wracks. Die Wände waren feucht, der Rost hatte sie angefressen, und von der Decke tropfte Wasser.
Tihomirs Euphorie war unterdessen einer gewissen Ernüchterung gewichen. Die Apparaturen im Leib des Schiffes waren nur noch Schrott. Eifrig ergriff der Technologe jedes Bruchstück, welches ihm noch brauchbar erschien, um es mit rätselndem und verständnislosem Blick zu prüfen und dann wieder wegzulegen. Nur eine Handvoll seltsamer Metallstücke, welche wohl einst Werkzeuge gewesen waren, wanderten in seine Taschen.
Die Dunkelheit um sie herum wurde immer dichter, und das leise Flüstern wurde zu einem murmelnden Chor, der sie begleitete, während sie weitergingen.
Der rote Nebel war in der Finsternis kaum noch wahrzunehmen, doch es wurde immer schwerer das Husten zu unterdrücken.
Plötzlich erstarrte Milena. „Da ist etwas!“, zischte sie, ihre Augen durchsuchten das Dunkel. Ein kalter Windstoß wehte durch den Gang, und der Nebel schien sich plötzlich zu verdichten, als hätte er eine eigene Absicht. Schatten lösten sich aus den Ecken, formten sich zu vagen Gestalten – Gestalten, die aussahen wie Menschen, aber ohne Gesichter, ohne Substanz, als seien sie aus purem Nebel gemacht.
„Nebelwesen!“, stieß Borislav hervor, während er sein Schwert hob. „Zurück!“, rief Zhanna. Tihomir wirkte wie erstarrt, seine Augen weit vor Angst.
Zhanna packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück. „Beweg dich! Wir müssen hier raus!“
Doch die Nebelwesen kamen näher, ihre gesichtslosen Gestalten schienen zu wachsen, die Kälte wurde beißender. Borislav schlug mit seinem Schwert nach ihnen und eines der Wesen fauchte wild auf, als die Klinge durch den Nebel schnitt.
Zhanna sah sich hektisch um, ihre Augen suchten nach einem Ausweg. Dann fiel ihr Blick auf die alte Kammer hinter ihnen – eine große Metalltür, die halb offen stand. „Schnell, da rein!“, rief sie, und die Gruppe stürzte in die Kammer, die Tür hinter sich zuziehend. Das Flüstern wurde lauter, ein Gewirr von Stimmen, die im Nebel verloren waren, und dann – Stille.
Zhanna atmete schwer und hustete in ihre Ellenbeuge aus. Als sie den Arm vom Mund nahm, erblickte sie kleine blutige Flecken, welche aus ihrem Rachen gekommen sein mussten. Sie sah zu den anderen.
„Wir müssen schnellstens hier wieder herauskommen, ohne von diesen Dingern in Stücke gerissen zu werden“, sagte sie, ihre Stimme zitterte leicht.
Die Kammer, die sie nun betreten hatten, war anders als die anderen. Aus allen Richtungen führten schwarze Rohre zu einer Art Gehäuse in der Mitte der Kammer. Im Kern dessen saß, gehalten von pechschwarze Metallstreben, ein Herz aus dunklem, fast schwarzem Stein, das wie von glühenden Adern durchzogen war. Diese pulsierten mit einem sanften, roten Licht, welches an einen Herzschlag erinnerte.
Der Rahmen des Gehäuses in welchem das eigenartige Objekt gehalten wurde, schien einst mehrere fingerdicke Glascheiben eingefasst zu haben, deren Scherben noch immer am Boden zu finden waren.
Tihomir trat näher, seine Stimme ehrfürchtig: „Das muss das Herz Zhirnitskrads sein, die Energiequelle des Schiffs…“
Borislav berührte mit seiner Klinge vorsichtig das Herz – und das Metall begann langsam zu glühen, als würde er es in eine Esse halten. Staunend zog Borislav die Klinge zurück, deren Spitze nun glutrot, fast weiß vor Hitze glomm und es roch leicht verbrannt.
„Das ist ja unglaublich”, sagte Zhanna. „Was muss dieses Herz einst für eine Macht gehabt haben!“
Entscheidung am Abgrund
Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie eine dunkle, gesichtslose Gestalt hinter Borislav. Sie schrie auf und stach dem Nebelwesen ihr Schwert in die Brust, worauf dieses sich auflöste und zerfiel.
„Das wird nicht das Letzte bleiben.“, sagte Milena leise, „Wir müssen hier raus, egal wie. Und wir müssen das Herz mitnehmen.“
Borislav zögerte nicht lange. Er nahm sich seinen Lederwams ab und riss damit das Herz aus seiner Fassung. Die Tür entriegelte sich mit einem metallischen Knirschen, und ohne ein Wort rannten sie los – durch den Gang, hinaus auf das offene Deck des Luftschiffs.
Der Nebel war nun überall, rot leuchtend, dick und pulsierend, als wäre er lebendig. Schatten glitten zwischen den rostigen Aufbauten hindurch. Nebelwesen tauchten lautlos aus der Finsternis auf, aus jedem Spalt, jeder Öffnung.
Zhanna brüllte: „Jetzt! Rennt!“ – und ihre Stimme zerriss die unheimliche Stille. Ihr Schwert zerschnitt einen der Schemen, der direkt vor ihr aus dem Leib des Schiffes zu dringen schien. Tihomir folgte dicht hinter ihr, während weitere Schatten nach ihnen griffen. Die Ketten waren nur wenige Schritte entfernt. Sie erreichten sie keuchend und hustend, das Herz in Tihomirs Armen verborgen.
Zhanna kletterte zuerst, rief: „Tihomir, gib es mir!
Ich sichere es!“ Der junge Technologe reichte ihr das lederumwickelte Herz mit zitternden Händen und sie zog sich die ersten Glieder der Kette empor, gefolgt von Tihomir.
Unten auf dem Deck standen Rücken an Rücken vor der Kette Milena und Borislav. Ihre Schwerter in Richtung der sich nähernden Nebelwesen erhoben.
„Geht!“, rief Milena „Berichtet unserem Volk von unserer Entdeckung!“
„Milena, nein!“ rief Tihomir. Doch sie brüllte bereits auf und hieb auf die heranstürmenden Wesen ein. Borislav trat einen Schritt vor, das Schwert zum Schlag in die Höhe gerissen. „Für die Oprichina!“, knurrte er, und seine Stimme war ruhig und fest.
Sein Schwert durchschnitt einen Schatten um den anderen, doch sie waren zu viele. Sie wichen seinen Hieben aus, fielen ihn an, und als der Erste durch seine Deckung gekommen war, versank er in einem See von kaltem Rauch. Das Letzte, was sie hörten, war Milenas Schrei: Kein Laut der Angst – sondern einer des Zorns, der von der Felswand widerhallte.
Zhanna konzentrierte sich auf den Aufstieg und gemeinsam mit Tihomir erreichten sie, Tränen in den Augen, röchelnd, die Hände blutig, den Fuß des Turms.
Doch sie hielten nicht inne. Durch eine felsige Treppe im Inneren des Turmes erklommen sie diesen.
Dort befand sich eine große Metallschale. Und als sie das Herz hineinlegten, begann diese zu glimmen – erst rot, dann schließlich in einem gleißenden Weiß, das in den Augen schmerzte, wenn man direkt hineinsah.
Ein Relikt aus der Alten Zeit. Ein Zeuge vergangener Macht. Und ein Grablicht für Borislav und Milena.