In den kühlen Hallen des zwergischen Museums der Oberstadt arbeitet er: der selbsternannte „Hüter der Tradition“, dessen Name hier nicht genannt werden muss – denn sein Ruf ist längst bekannt. Es ist seine Aufgabe, die Bräuche und Sitten der Vergangenheit zu bewahren und ein Vermächtnis für kommende Generationen zu schaffen. Doch wie so vieles in dieser Stadt, trägt auch sein Werk den bitteren Nachgeschmack der Ungerechtigkeit.
Die Geschichte unserer Stadt ist alt. Sie wurde nicht nur von den Zwergen geschrieben, sondern auch von den vielen anderen Völkern, die sich in diesen eisigen Landen niedergelassen haben. Ihre Geschichten, ihre Bräuche und ihre Sitten sind tief in die Wurzeln unserer Gemeinschaft eingebettet. Doch wer durch die Hallen des Museums wandert – ja, ich war wirklich dort -, wird schnell merken, dass ein Großteil dieser Vergangenheit systematisch zum Schweigen gebracht wird. Die Artefakte, die ausgestellt sind, sprechen nur eine Sprache: die der Zwerge. Und alles, was nicht in diese glorreiche Erzählung passt, wird ignoriert oder, schlimmer noch, verzerrt dargestellt.
Besonders auffällig ist dies bei den wenigen Relikten, die es aus dem Armenviertel ins Museum geschafft haben. Alte Werkzeuge der Menschen, wunderschön geschnitzte Figuren der Elfen, oder die farbenfrohen Decken der Orkfrauen – all das wird abgetan als „kuriose Volkskunst“ oder „Randnotizen der Geschichte“. Ein Zwergenhammer hingegen, auch wenn er nur von einem einfachen Arbeiter benutzt wurde, wird mit Ehrfurcht präsentiert, als wäre er ein heiliges Relikt.
Die Ungerechtigkeit hört hier nicht auf. Bräuche, die einst die Stadt vereinten, werden durch die Feder dieses Hüters zu rein zwergischen Errungenschaften umgeschrieben. Ein Beispiel: das „Fest der ersten Flamme“, das jedes Jahr gefeiert wird, um den Schutz vor den kalten Winternächten zu ehren. Ursprünglich war dies ein Ritual, bei dem alle Völker der Stadt gemeinsam eine große Feuerstelle errichteten und ihre Gaben darbrachten – ein Zeichen des Zusammenhalts in einer Welt, die nur durch Gemeinschaft überlebensfähig ist. Heute aber? Die offizielle Darstellung des Museums erzählt, es sei ein alter Brauch der Zwerge, bei dem andere Rassen nur Gäste seien, nichts weiter.
Wie kam es zu dieser geschichtlichen Verzerrung? Es ist kein Zufall. Der „Hüter des Vergessens“ folgt einem klaren Ziel: die Macht der Zwerge nicht nur über die Gegenwart, sondern auch über die Vergangenheit zu festigen. In einer Stadt, in der die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Zwerg und Nicht-Zwerg immer größer wird, ist die Kontrolle über die Erzählung ein Werkzeug der Unterdrückung. Wenn die Vergangenheit suggeriert, dass die Zwerge schon immer die „natürlichen“ Herrscher waren, wird es umso schwieriger, diese Herrschaft in Frage zu stellen.
Für die Bewohner der Unterstadt bleibt nichts als der bittere Geschmack dieser Ungerechtigkeit. Unsere Bräuche und Sitten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, verschwinden langsam aus der offiziellen Geschichte. Unsere Kinder werden eines Tages nicht mehr wissen, dass auch ihre Vorfahren Teil dieses Ortes waren, dass sie nicht nur unter den Zwergen lebten, sondern mit ihnen. Und die einzigen, die diesen Verlust bedauern, sind wir – die Stimmen, die nicht gehört werden.
Vielleicht wird eines Tages ein wahrer Hüter der Tradition auftauchen, jemand, der versteht, dass Geschichte mehr ist als ein Werkzeug der Mächtigen. Bis dahin bleibt uns nichts als der Schatten dieses Hüters, der die Vergangenheit begräbt, um die Herrschaft der Gegenwart zu stützen.
~ Eine Bewohnerin der 4. Ebene von Eisschmiede