Khayana
Khayana Myrthil betrat das kleine Felsenplateau vor ihrer Residenz. Viele würden es eine Höhle nennen, doch jene, die in den Gemächern der Erzdruidin gewesen waren, wussten es besser. Es fehlte dort an nichts.
Sie lächelte, als sie die ersten Strahlen der Sonne über Avardraich aufgehen sah und begrüsste sie mit innerer Zufriedenheit.
Die beiden Männer, die die Nacht mit ihr geteilt hatten, schliefen noch selig und Khayana sah keinerlei Grund, sie zu wecken. Sie hatten ihr ein grosses Geschenk gegeben. Und sie hoffte, sie ihnen ebenfalls.
“Ah, komm… Kein Zweifel!”, dachte sie.
Khayana hatte viele Namen, viele Titel. So wie ihr Land und jene, die es bewohnten. “Die-mit-den-Sternen-singt” nannten viele sie liebevoll. Und das weiche Licht einer wolkenlosen Vollmondnacht, war ihr tatsächlich das liebste und die Gesänge, die sie dann wob, hatten ihre ganz eigene Magie.
Andere – die ihr nie begegnet waren – nannten sie die Hexe vom Kult des Ewigen Zwielichts.
Sagten, sie raube ihre Kinder. Und wie in vielen Geschichten, steckte auch in dieser ein Körnchen Wahrheit.
Und nicht wenige nannten sie einfach Nana – Mutter. Oft eher aus Respekt, oft auch als eine Tatsache.
Sie hatte Söhne und Töchter zur Welt gebracht und sie bereicherten ihr Leben in vielerlei Hinsicht.
Sie sah, dass Ika Ayama am Rande des Plateaus auf sie wartete.
“Spricht-mit-den-Winden”. Ika war fast nie ohne ihren Raben Nectlii zu sehen. Zur Zeit sass er auf ihrer
Schulter und spielte mit ihren langen schwarzen Haaren.
Khayana beschloss, ihre Beraterin noch einen Augenblick zu ignorieren und genoss stattdessen das Spiel des
Sonnenaufgangs über Avardraich.
Das Felsenmassiv, getaucht in erst blutiges Rot, das sich auf den Wasserfällen und Seen wiederspiegelte. Und
auf den Baumkronen des Waldes, der sich ewig zu erstrecken schien. Dann abgelöst durch warmes Orange.
Hundertfach gebrochen und reflektiert durch Kristalle in den Felsen selbst.
Es war ein Anblick, den Khayana genoss.
Avardraich war eine Stadt oder Siedlung nur im Namen. Es gab sehr wenige Gebäude. Doch das Land selbst
spürte die Bedürfnisse jener, die hier lebten.
Und es veränderte sich, um sie zu erfüllen. “Rapide…”, flüsterte Khayana.
Ihr Blick schweifte über Arach-Tenelorn, den neusten Bezirk. Bäume und die immer hungrigen grossen
Spinnen der Wälder hatten hier gemeinsam grosse Kokons gewoben, ähnlich der Nester von Weberameisen.
Der Morgentau glitzerte auf den tausenden seidenen Fäden und tropfte von den Blättern.
Nicht weit unter ihr wohnten viele weitere Einwohner Avardraichs in natürlichen Höhlen, deren Wände von
fluoreszierenden Fungi erhellt wurden.
“Ist es… zu viel?”, fragte sie sich.
Aber nach einer freudigen Nacht wie der letzten, hatte sie keine wirkliche Lust auf düstere Gedanken.
Sie war weit älter, als ihr Aussehen hergab und wenn sie eine Lektion gut gelernt hatte, dann, für die Ihrigen
zu sorgen, sich aber nie von Sorgen erdrücken zu lassen.
Gemächlichen Schrittes und lächelnd ging sie auf Ika zu. Die jüngere Frau war – wie sie selbst –
sehr bewandert in den Elementen und den geheimen Lehren der Natur.
Es trennten sie noch viele Erfahrungen – und auch Enttäuschungen – von Khayanas Macht. Aber sie war
ohne Zweifel eine Braut des Windes und ihr Wissen über alle Vögel der Lüfte war legendär.
Doch wie jene Vögel, die mit der Jahreszeit wanderten, war auch Ikas Blick immer in die Ferne gerichtet.
Und ihr Herz nie nur an einem Ort.
Sie war oft Khayanas erwählte Emissärin, wenn es darum ging, andere Kulturen zu beobachten oder mit ihnen
in Gespräche zu treten.
Viele nannten sie kalt und berechnend. Und Khayana stimmte zu. Aber Ikas Kälte diente den Zielen der
Taur-i Tavardraich.
Waren die Spinnen, die so vielen Unterkunft verschafft hatten, kalt und berechnend? Waren die Wölfe es, die
die Wälder durchstreiften? Oder die Rehe, die an den Rinden nagten und Jungbäumen den Tod brachten?
Nein, sie waren alle Teil derselben ewigen Ordnung. Alle Teil der Gesetze, die seitdem die Welt existierte auf
jeden kleinsten Teil der Welt geschrieben waren, wie die Tätowierungen, die die Druiden trugen.
Gesetze, die sich in vielen Formen manifestierten, aber alle auf einen Ursprung zurückgehend.
“Was gibt es neues, Ika?”, fragte Khayana.
Ika verbeugte sich leicht. Nectlii krächzte bei der unerwarteten Bewegung und flog auf einen nahen Felsen, um zuzusehen.
“Erzdruidin, ihr wünschtet einen Bericht über das Land südlich von Nevlindae. Es ist ein Ort, wo sich jene sammeln, die in der Vergangenheit zuviel Schmerz erfuhren. Unsäglichen Schmerz, den die Zeit nicht lindert. Die Verbrannten.”
Khayana nickte.
“Und ich nehme an, unsere Versprechen von Linderung ihrer Schmerzen stiessen nicht auf viel Begeisterung?”
“Nein. Sie formieren sich und sie ziehen viele andere an.”, sagte Ika, “Aber Paju ist auf dem Weg hieher. Er hat mehr Erfahrung mit ihnen!”
Khayana schmunzelte leicht.
“Paju? Es ist sehr lange her, dass ich ihn traf.”
Dann erstarb ihr Lächeln.
“Aber ich habe Naewu und Shaakti ebenfalls gerufen.
Ich fühle, sie sind bereits nah.”
Ika schauderte kurz.
“Erzdruidin, Naewu-der-Baum und Shaakti Regenfluch sind machtvoll. Aber nicht weise. Ihr wisst, was ihre
Saat sein wird.”
Khayana legte ihre Hand auf Ikas Schulter.
“Ein Sturm bringt Vernichtung, aber auch Raum für Erneuerung. Du solltest das wissen?”
Ika nickte, ein wenig errötend ob der Novizenlehre, die Khayana anwandte.
Khayana lachte.
“Es war nur ein Spass. Sieh dir diesen glorreichen Morgen an! Es wird ein schöner Tag! Geniesse ihn!”
Aber Ikas Geist gönnte sich niemals Rast. Sie war so rastlos wie die Winde.
Dennoch verbeugte sie sich ehrerbietg.
“Ich bleibe in Avardraich, falls ihr mich benötigt.”
Khayana schüttelte sanft den Kopf: “Nein, Ika. Du wirst andernorts benötigt. Wir reden später darüber!”
Paju
Die kahlen Äste eng an den borkigen Körper gelegt, eilte Paju mit wurzelfestem Schritt über den schattigen Waldboden.
Hier und da gab es auch ein paar hellere Stellen, denn einige der hochgewachsenen Bäume zeigten eine ausgedünnte Blätterkrone, durch die sanftes Licht einfiel. Der Weidengewachsene sprang von Lichtfleck zu Lichtfleck und folgte so einem unbestimmten Pfad durch das verschlungene Dickicht.
Eine Familie rotfarbener Wanzen saß zwischen den Furchen seiner grobkörnigen Rinde. Im wilden Bart und tief im Moos seiner Schultern eingebettet schliefen weitere Insekten.
Aber Paju ruhte nicht in der kühlen Jahreszeit.
Und das war von Vorteil, denn er hatte dem Druidenkult etwas zu berichten, das keinen Aufschub duldete.
Vor einer Woche waren plötzlich die Verbrannten aufgetaucht und machten sich ebenfalls auf den Weg ins Waldinnere.
Paju vermutete, dass sie zu dem Wohnort der Druiden gerufen wurden, denn so war es üblich für Wesen, die eine Nähe zur Natur inne hatten.
Aber war das in diesem Fall auch vernünftig?
Immerhin trugen die Verbrannten das ewige Glimmen in sich, ein schwelendes Brennen, das schnell entfacht
werden konnte.
Und was würde schlimmer für die Bewohner des Waldes sein als Flammen, die sich unbeherrscht durchs Grün
ausbreiteten?
Paju eilte weiter durchs Unterholz. Je mehr er über die Eindringlinge nachdachte, desto angespannter wurde
sein Gesichtsausdruck.
Er wusste nicht viel über sie, außer dass sie einst stolze Baumwesen waren, die aus einer Gegend kamen, die
vor langer Zeit den Feuerstürmen ausgesetzt war.
Dass sie sich dem rohen Leben dort angepasst hatten und ihre tiefschwarze Rinde, ihr verkohltes Äußeres
ihnen Schutz vor weiteren Verbrennungen gab.
Dass sie dieses innere Glimmen besaßen, was ansonsten kein anderes Volk der Baumwesen hatte.
Und dass man sich erzählte, dass nie jemand vom hölzernen Volk die Bekanntschaft mit den Verbrannten
gesucht hatte.
Warum es also jetzt tun?
Bei einem sumpfigen Teich hielt Paju an.
Obwohl es eine Lücke im Wald gab, lag der Tümpel im Schatten.
So tief war er in den Wald gelaufen. So unwegsam war der Pfad nach Avardraich, dem Höhlenort der Druiden. Paju setzte seine Wurzeln in den Tümpel und sog das kühle Nass in sich auf. Und nicht nur das, auch die Luft, das dumpfe Licht, die unbeschwerte Geräuschkulisse.
Es dauerte nicht lange, dann war er ganz durchtränkt von dem herrlichsten Urwald, den er kannte: seine Heimat.
“Paju.” – “Ja?” – “Du musst aufbrechen.” –
“Ich weiß.”
Zögerlich nahm er seine Wurzeln aus dem Wasser und lief weiter in Richtung der Druidensiedlung.
Und als er schließlich die Höhlenstadt erreichte und das Sonnenlicht auf den steinernen Terrassen glänzte,
wusste er, dass auch die Druiden ihren Wohnort schützen würden.
Aber konnte Khayana Myrthil, die oberste Druidin, den Ruf aufheben, der die Verbrannten hierher lockte?
– Alovalyar, Schreiber des Kultes –