Im vergangenen Vne Thall hatten wir bereits eine Legende der Urzu’thair geteilt, jedoch in der Tat noch nie eine unseres eigenen Volkes. Da Sagen, Legenden und Mythen in unserem Volk jedoch eine große Bedeutung haben und wir auch über ein Füllhorn an Geschichten, Liedern und Märchen verfügen, wollen wir dem Aufruf der Ntal‘Hrom folgen und hier einige davon teilen.
Die erste Geschichte ist Teil unserer religiösen Überlieferungen und beschreibt die Geburtsstunde unseres Volkes.
—
– Die Feuergeburt der Vnelayjah –
In der Zeit vor unserer Zeit, als Darshiva noch jung war und das Himmelszelt ungetrübt von Rauch, Sturm und Asche, lag die Welt brach – ein endloses Schweigen aus Staub, Stein und Unform. Aus diesem stummen Schoß der Erde erhob sich der Urgott Raqhal, der Bildner der festen Dinge, geboren aus Fels und Geduld, Träger des Gedankens, der formt.
Mit Händen aus Berg und Wille aus Ewigkeit begann Raqhal sein Werk. Aus dem rotgoldenen Sandstein der südlichen Ödlande erschuf er ein Volk: hochgewachsen, anmutig, mit Augen wie geschliffene Obsidiane. Er nannte sie Mushaqhahlai – „die Geformten“. Ihre Körper waren vollkommen, ihr Antlitz schön, ihr Gang lautlos wie der Wind über Dünen. Und doch: Sie atmeten nicht. Sie liebten nicht. Sie blickten in die Sonne, aber sahen nicht. Denn in ihnen wohnte keine Seele.
Und so blieben sie – schön, aber leer. Wesen ohne Klang, ohne Lied, ohne Herzschlag.
Die Jahre vergingen. Jahrhunderte. Zeitalter. Raqhal betrachtete sein Werk, und Enttäuschung und Schmerz bohrten sich in seinen harten Geist. Er hatte ein Volk geschaffen, aber kein Leben. Da verließ er sie und kehrte zurück in die Tiefen der Erde, wo der Stein schweigt.
Doch der Klang des stummen Seins und des ziellosen Wandelns des leblosen Volkes stieg empor – nicht in Rufen, sondern in dem bloßen Fehlen von Lied. Und dieses Schweigen rief eine andere: Vnelyra, die Flammenmutter, Herrin des lebendigen Feuers, Tochter des Lichtes und der ewigen Glut. Sie stieg herab auf Darshiva in Gestalt eines Meteorfeuers, das den Himmel zerriss und die Stille verbrannte.
Sie trat unter das Volk der Mushaqhahlai. Sie sprach nicht, denn ihre Stimme war das Lodern des Feuers, das Knistern der Funken, das Tosen des Windes über heißem Gestein. Und sie hauchte.
Sie hauchte in die Stirn jedes Wesens eine Flamme, die nicht verbrennt, sondern lebt – die innere Glut, das Seelenfeuer, wie man heute sagt. Und da geschah es: Die Mushaqhahlai öffneten ihre Augen zum ersten Mal wirklich, erfüllt von herrlich lebendiger Farbe. Sie sahen. Sie fühlten. Und sie tanzten und sie sangen – ein uraltes und heute lange vergessenes Lied: das sagenhafte Ursprungslied. Niemand hatte sie jenes Lied gelehrt. Es entsprang ihrer neugeborenen Seele, entfacht durch den Funken der Göttin – die reinste Form des Gesangs.
Vnelyra lächelte, als sie sie tanzen sah. Ihre Körper, aus Sandstein geboren, begannen sich zu wandeln: Ihre Haut wurde warm, geschmeidig und dunkel wie geflammtes Holz, ihre Stimmen wurden hell wie der Feuerschein, und ihre Herzen trugen fortan die Erinnerung an jenen göttlichen Gluthauch.
So wurden sie das Volk des lebendigen Feuers – geformt von Raqhal, doch beseelt von Vnelyra. Sie selbst nannten sich fortan Vnelayjah zu Ehren der großen Göttin. Doch gedenken Sie auch Raqhal, der einst ihre Körper erschuf.
In einem Priesterwort, welches noch heute oft gesprochen wird, heißt es:
Wir sind der Stein, der brennt.
Wir sind das Leben aus Fels und Flammen.
Wir sind das Lied aus Stille und Glut.
Dank sei Raqhal für unseren Leib.
Dank sei Vnelyra für unsere Seele.
So gedenken wir in unseren heiligen Hallen aus Sandstein, dort wo das Feuer nie verlöscht, des Gottes, der uns formte, und der Göttin, die uns erweckte.
—
Die beiden folgenden Geschichten sind klassische Sagen in unserem Volk, welche von der Zeit vor dem Kataklysmus berichten.
—
– Die Flamme, die alles vergaß –
Einst war da ein Flammenwirker und sein Name war Belqhasayn Am’Qhuayrahda – der mit starkem Willen Gesegnete, ein Sohn der Wüste und Schüler der ewigen Hitze. Er trank kein Wasser, denn das Feuer nährte ihn. Er aß nicht, denn sein Hunger war Macht. Sein Blick durchdrang Stein, sein Schritt ließ den Sand unter seinen Sohlen zu Glas werden. Seine Magie war so rein, dass selbst die Ältesten den Blick senkten, wenn er sprach.
Doch Belqhasayn begehrte mehr: Nicht Macht allein – sondern das Wesen der Flamme selbst. Er wollte nicht mehr nur herrschen über das Feuer, er wollte das Feuer sein.
So wurde er immer fremder. Er vergaß seine Familie, seine Freunde, ja, gar sein eigenes Selbst.
Er verließ seine Heimat eines Morgens. Kein Abschied, kein Wort. Nur eine Spur aus Asche und Scherben. Fortan sah man ihn nur noch in den Ruinen alter Städte, auf den Gipfeln erloschener Vulkane, in den Stürmen der sengenden Ebenen. Und immer, immer loderte sein Feuer heller. Doch seine Stimme verstummte. Seine Augen verloren sich. Sein Herz – so heißt es – wurde zu Schlacke.
Die Vnelayjah flüsterten seinen Namen nur noch als Mahnung. Sie sagten: „Wer zu viel will, verglüht – und diese Glut hat kein Gesicht.“
In den letzten Tagen der Alten Zeit, als Stürme über das Land peitschten und jeden in Angst und Schrecken versetzten, als das Feuer in den Tempeln zu flackern begann, weil niemand mehr sang, stieg eine junge Priesterin hinauf zum schweigenden Krater, wo eine riesige grelle Flamme empor loderte, wild und ungezähmt. Sie hieß Suleyja, und ihre Stimme war wie warmer Tau auf heißen Steinen.
Dort fand sie ihn: Belqhasayn, oder das, was von ihm blieb – eine wandelnde Flamme in Gestalt eines Mannes, wortlos, ziellos. Die Priesterin sprach nicht. Stattdessen sang sie ein altes Kinderlied, das ihre Großmutter ihr einst beigebracht hatte – ein Lied über das erste Licht, das Vnelyra den Augen des Volkes schenkte. Ein Lied, das nur gesungen werden kann, wenn man sich erinnert, wer man ist.
Und Belqhasayn hielt inne.
Sein Feuer zitterte. Zum ersten Mal in Jahrhunderten flackerte es – nicht aus Zorn, sondern aus Erinnerung. Die Flammen formten ein Gesicht mit suchenden Augen. Sein Blick erfasste die junge Priesterin – ein letzter Blick in diese Welt. Dann formten seine brennenden Lippen die Worte: „Zu spät.“
Sein Körper wandelte sich zu einem brennenden Sturm aus gleißend hellen Flammen, sodass die Priesterin ihre Augen schließen musste und sich schützend zu Boden warf.
Als sie wieder aufsah, war alles dunkel. Belqhasayn war verschwunden.
Manche sagen, er starb dort. Andere glauben, er wurde von Vnelyra in ihr ewiges Feuer aufgenommen. Manche sagen, er wandele noch immer gemartert über die Welt, um erneut zu lernen, wie man liebt. Doch niemand weiß, was wahrlich mit ihm geschah.
Das Lied der Suleyja wird noch heute Kindern vorgesungen.
Und es wird auch gesungen am Tag der ersten Flamme, wenn wir dem Geschenk der Göttin gedenken. Doch ist es immer auch ein Mahnmal, was unbändige Gier aus einem Wesen hervorzubringen imstande ist.
—
– Die singende Klinge –
In den Tagen vor der Asche, als die Vnelayjah noch prächtige Städte aus poliertem Sandstein, geschmolzenem Glas und zierendem Gold bauten, lebte ein Feuermagier namens Sheyran Am’Ruynah – der mit Gesang Gesegnete. Anders als viele seiner Brüder und Schwestern trug er keine edle Robe, keinen prunkvollen Stab, keinen Schmuck aus glühenden Edelsteinen. Er trug nur einfaches Leinen und einen ledernen Gürtel mit Werkzeugen – Hammer, Meißel, Klanggabeln, Speitel und andere sonderbare Hilfsmittel –, eine kleine Flöte an einem Riemen um den Hals und auf dem Rücken eine Harfe aus geschwärztem Holz.
Sheyran war kein Krieger und kein Beherrscher. Er war ein Erschaffer. Ein Kunsthandwerker, ein Schmied und ein Schöpfer der Lieder – ein Magier, der das Feuer nicht zum Kampf oder zur Befehligung rief, sondern zum Klingen und Tanzen brachte. Seine Künste waren selten, seine Werke einzigartig. Mit Feuer und Klang formte er aus Erz, Stein, Holz oder Leder Dinge, die zugleich schön und magisch waren: Schalen, die bei Mondlicht summten, Schlösser, die sich nur auf ein bestimmtes Lied öffneten, steinerne Tempelbecken, in welchen sich ein Feuer entzündete, wenn man sang, und einst sogar eine Glocke, die bei drohender Gefahr zu glimmen und leuten begann.
Doch Sheyran träumte von etwas größerem. Er wollte ein Werk erschaffen in Form eines magischen Schwertes, das jedoch nicht zerstörte, nicht tötete, nicht beherrschte und nicht bannte – sondern erinnerte. Ein Werk, das die Welt selbst singen ließ.
So begab er sich auf eine Reise, um die sieben Fragmente des Ursprungsliedes zu finden – jenes Lied, das unser Volk der Legende nach sang, als Vnelyra ihnen das Feuer der Seele schenkte. Diese Fragmente waren nicht in Büchern, sondern in der Welt selbst verborgen:
– Der erste Ton lag im Wind, der über der flammenden Wüste sang.
– Der zweite war in der Freude eines Kindes, welches zum ersten Mal die Sonne erblickt.
– Der dritte in der Stille einer erkalteten Glut.
– Der vierte in den Hammerschlägen eines Schmiedes, der ohne Feuer arbeitet.
– Der fünfte im Schlaflied einer Mutter, die nie selbst Kinder hatte.
– Der sechste in der Stimme eines sterbenden Anführers, welcher sich für sein Gefolge opfert.
– Doch der siebente war nie gefunden worden.
Sheyran aber sammelte die ersten sechs. Und als der Tag kam, an welchem die Göttin der Welt am Nächsten ist, begab er sich in die Schmiede unter einem Tempel von Vnelyra selbst. Dort, so sagt man, loderte eine ewige Flamme, die nur mit reinem Geist und klarer Absicht zu einem Schmiedefeuer entfacht werden konnte.
Drei Tage lang beschwor Sheyran das Feuer, schmolz verschiedene Metalle, sang die Fragmente in das Schwert hinein, sprach mit der Glut und tanzte mit den Flammen. Und am Ende entstand die Singklinge, benannt Nashyjid Al’Havaya – „Hymne für die Göttin“. Eine Klinge aus schwarzem Stahl und flammender Stimme. Sie war nicht zum Töten bestimmt – sondern sang das Lied eines jeden, der sie hielt. Freude. Schmerz. Hoffnung. Schuld.
Jedoch sang sie nicht jenes Lied, welches Sheyran sich erhofft hatte. Er konnte das Werk nicht vollenden. Der siebente Ton fehlte. Und so legte er das Schwert in eine Kammer aus magischem Gestein – verschlossen durch ein gesungenes Siegel, das niemand jemals geöffnet hat.
Es heißt: Wenn jemand das fehlende Fragment in sich trägt, wird die Kammer sich
öffnen und die Klinge wird wieder singen – vollständig.
Seitdem suchten viele nach dem fehlenden Ton des Ursprungsliedes: Magier, Sänger, Priester, Herrscher. Doch keiner konnte das Lied je vervollständigen.
Der Ort der steinernen Kammer ist über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten.
Man sagt, sie habe keinen Eingang und kein sichtbares Schloss. Sie erscheine nur als schwarzer Fels, in welchen eine Inschrift gemeißelt wurde, deren Übersetzung wie folgt lautet:
Nicht alle Feuer brennen. Manche warten. Manche klingen – und wenn sie es tun, erinnert sich die Welt an das, was sie einst vergessen hat.
—
Die folgende und letzte Geschichte ist eine sogenannte “Qhyravha”, eine Geschichte, welche sich prägnanten Eigenschaften von Tieren bedient, die auch anderen Wesen oder Gruppierungen innewohnen können, und welche in aller Regel einen lehrreichen Kern besitzen. Häufig werden diese den Kindern unseres Volkes erzählt und so von Generation zu Generation weitergetragen. In anderen Kulturen werden diese Geschichten auch als “Fabeln” bezeichnet.
—
– Der Hjanaqh und der hungrige Alhuahad –
Einst lebte in den Weiten der Wüste ein Hjanaqh, schlank und flink, mit scharfem Blick und noch schärferem Verstand. Andere Völker mögen jenes Tier wohl als Wüstenfuchs bezeichnen. Dieser Fuchs also war ein geschickter Jäger und fand stets genug, um sich zu sättigen – doch war er zu eigennützig, um seine Beute mit jenen zu teilen, welche weniger erfolgreich waren auf der Jagd. Daher lebte er ohne Gefährten, allein nur mit seinem Schatten.
Eines Tages verirrte er sich in eine Steppe, wo er weidende Tharqhajibi und Huassylahi erblickte. Für jene jenseits unserer Heimat sei gesagt, dass ein Tharqhajib ein Wüstenrind ist, und ein Huassylah ein graziler aber kräftiger Springbock.
Der Geruch der Tiere kitzelte den feinen Geruchssinn des Hjanaqh und ließ seinen Magen knurren. Doch so sehr ihm auch das Wasser im Munde zusammenlief, er wusste: Diese Beute war zu groß für ihn allein. Ihre Leiber waren zu kräftig, als dass seine Zähne sie hätten bezwingen können.
Da begegnete ihm ein magerer Löwe – welchen die Vnelayjah Alhuahad nennen – mit eingefallenen Flanken und einem düsteren Blick. Der König der Tiere war ausgemergelt und schwach und seine Augen glühten vor Hunger. Als er den Wüstenfuchs erblickte, duckte er sich, bereit zum Sprung.
Der flinke Fuchs wäre ihm mit Leichtigkeit entwichen, doch stattdessen sprach er schnell:
„Warte! Warum solltest du mich fressen und morgen wieder hungern? Lass uns zusammen jagen. Ich treibe dir die Tiere zu und du bringst sie zu Fall. Dann teilen wir.“
Der Alhuahad, dem der Magen die Ohren verschlang, nickte stumm. Fortan jagten sie gemeinsam. Der Fuchs war klug und schnell, der Löwe stark und erbarmungslos. Sie wurden zu einem gefährlichen Gespann. Bald war der Hjanaqh wohlgenährt, rundlich und satt und der Alhuahad gewann immer mehr an Kraft bis sein Gebrüll wieder die Steppe erzittern ließ.
Doch dann kam die Dürre.
Die Tharqhajibi und Huassylahi verschwanden und der Boden riss auf. Die Sonne brannte gnadenlos und der Wind trug nur Staub.
Eines Nachts erwachte der Wüstenfuchs und sah den Alhuahad über sich stehen – still, starr und mit einem Ausdruck, den er nicht deuten wollte.
„Du willst mich fressen?“ fragte er erschrocken. „Ich dachte, wir wären Freunde.“
Der Löwe zeigte die Zähne und sprach: „Es war niemals Freundschaft, die dich mit mir verband – sondern nur deine Gier. Und ebenso war es niemals Freundschaft, die mich mit dir verband – sondern nur mein Hunger.“
Der Fuchs wollte fliehen, doch seine Pfoten waren träge vom Überfluss, seine Sinne stumpf von der trügerischen Sicherheit. Der Alhuahad war nun wieder König – und der Hjanaqh nur eine Mahlzeit.
Mit einem Prankenhieb warf er ihn zu Boden und durchbiss ihm das Genick.
—
Es gibt noch manigfaltige andere Sagen, Mythen, Märchen und Lieder in unserem Volke, von welchen die meisten lehrreicher, nachdenklicher, mystischer oder rätselhafter Natur sind. Jedoch gibt es auch solche, welche rein zur Unterhaltung dienen und einen freudigeren Ton anschlagen, oder jene, welche uns Hoffnung in den Zeiten der Asche spendeten. Sicher wird sich in Zukunft die Gelegenheit bieten, noch weitere Geschichten der Vnelayjah, aber auch der Urzu‘thair oder der anderen Völker, deren vereinzelte Angehörige die Aschezeit in unserem Reich überdauerten, zu teilen.
niedergeschrieben von
Alsyn Bennev Seannyal
Ratsmitglied für Kultur und Gemeinschaft
des Reichsrates von Al‘Umbryjil
im 27. Mondlauf nach der Asche