Hört her, oh ihr Völker! Ich, die oberste Bewahrerin der Riten und Geschichten des vergangenen Reiches verneige mich! Getreu meiner Pflicht offenbare ich Euch die älteste Sage meines Volkes, ob dies nun Zustimmung finden mag oder nicht:
Vor langer Zeit, kurz nach dem Kataklysmus, da war ein Mädchen namens Sehnsucht. Sie lebte mit den Anderen ihrer Sippe ein karges Leben in Prachtfall zum Schutz vor dem Aschenebel. Jeden Abend versammelten sie sich die Aschlinge um die Ältesten und lauschten voll Wehmut in ihren Herzen den Geschichten von all dem, was nun für immer vergangen: Von der Pracht der Paläste, dem Ruhm des Reiches und von dessen einst sonnigen Gefilden.
So tat dies auch Sehnsucht und war innig ergriffen vor allen durch die Geschichten über die Sterne. Wunderschön und glänzend wie Münzen sollen sie gewesen sein. In ihrem Herzen empfand sie eine unermessliche Schwere und sie war voll seltsamer Traurigkeit darüber, dass sie solches Leuchten nie sehen würde. Und so schlich sie sich oft an den Rand der Ruinen und starrte einsam in die düster verhangene Himmelsphäre. Eines Tages war dort ein Greis und sprach:
„Warum weinst du, Kind der Asche? Was suchst du in den Schatten?“ Darauf antwortete Sehnsucht: „Ich fühle so tiefen Verlust und finde keinen Trost. Ach, einst gab es tausend silberne Lichter, die die Dunkelheit erhellten als Zeichen der Hoffnung und Halt schenkten. Sag mir doch im Schatten deiner Gnade: Warum sind sie verschwunden?“ „Sei unverzagt!“, antworte der Alte voll Weisheit. „All dies ist nicht fort. Einzig können wir es nicht mehr erblicken. Dies ist die Grausamkeit des Schicksals. Gib dich doch deiner Suche hin! Nur so wirst du erblicken, was dir so furchtbar fehle…“ Sehnsucht aber wusste nicht wie sie die Worte deuten sollte. Sie hob den Kopf um einer weiteren Frage zu stellen. Aber der Fremde war auf einmal fort. Denn es war ein Ahnengeist gewesen und er hatte sich in Nebel aufgelöst.
Von diesem Tage an wanderte Sehnsucht unablässig durch die Ruinen, den Blick zum Himmel, im Herzen einen Funken. Trotz der Warnungen ihrer Familie und der Akolyten machte Sie sich auf die Suche nach den Sternen . Sie kletterte auf verfallene Säulen und Dächer um nur ein Schimmer des alten Glanzes zu erhaschen. Doch die Finsternis blieb düster und undurchdringlich. Also stieg sie tief hinab in die entlegensten Kammern und Katakomben, wo die Toten ruhten. Auch hier war nur Dunkelheit zu finden.
So vergingen viele Jahre und Sehnsucht alterte wie die Mauern um sie herum. Ihre Glieder wurden schwer, ihre eifrigen Schritte langsam und bedacht. Doch ach: Jedes Funkeln in der Ferne hatte sich doch stets als Trugbild entpuppt. Alle Aschlinge mieden sie, denn sie suchte, was unwiederbringlich verloren. So wuchs ihr Schmerz höher als die zerbrochenen Türme und tiefer als der Grund des Wassers und sie wurde der Suche müde.
Sie setzte sich auf gebrochen abseits auf einen Stein und wartete auf den Tod. Da erhaschte sie in der Ferne tanzende Lichter, die bald zahllos wurden und näher kamen. Es war die Prozession des letzten Ethnarchen, begleitet von seinem Hofstaat! Die Aschlinge trugen ihnen zu Ehren Masken und dazu Laternen aus glimmenden Pilzen, deren Lichtschein das Dunkel erleuchtete.
Diese Schönheit ergriff Sehnsucht so sehr, dass sie plötzlich die Wahrheit erkannte: All die Jahre waren die Sterne hier gewesen! Ihr Glanz lebte in den Augen und Herzen ihres Volkes fort, die Tag für Tag Trauer und Vergänglichkeit trotzten. Ihr Leben lang hatte sie nach einem Licht gesucht, das direkt vor ihren Augen war. Nun aber konnte sie sehen wie es ihr prophezeit war – das Licht des Zusammenhalts, des Trostes und des Glaubens. Und so starb sie in Frieden…
Mögen die Ahnen erfreut sein über dieses demütige Opfer!
Verfasst und beglaubigt durch Ordensmeisterin Dämmerflor von den Klagenden aus der Sippe der Sorgenweber