Hört, Kinder der Gemeinschaft, wie zwei Geschichten von Dankbarkeit und des Heldenmutes Lohn wieder eine Geschichte erzählen, wie die zwei Gesichter von Rih’Sol, die Leben spendende, wohlige Wärme und die Leben nehmende, sengende Hitze, die gemeinsam erst das volle Antlitz von Vater Sonne zeichnen. Wie diese Gesichter, so unterschiedlich erlebte auch die Heldin Arinai’Tor, die starke Beschützerin die Danksagung nach ihrer vorläufig größten Tat.
Einen Mondlauf ist es nun her, dass sie und ihre Begleiter unter größten Verlusten das Elun’K’Tāri so sehr schwächen konnten, dass es sich der Tāri’Mana seiner Jäger unterwerfen musste und fortgebracht werden konnte. Einen Mondlauf, in dem Wunden versorgt, geborstene Speere erneuert und verschossene Pfeile geborgen werden konnten. Doch auch die Ränke in unserem Reich ruhten nicht, wie wir trotz unserer Nähe zu den Geschehnissen nicht verschweigen werden, haben wir doch vor allem die Sāndari und das Shan im Sinn.
Wie emsige Sandläufer die Früchte der Wüste sammeln, so begannen die Bewohner von Thul’Varas Zuflucht mit größtem Eifer ihr Dorf zu schmücken. Bunte Stoffbahnen, so leuchtend wie die Augen unseres Volkes im Sonnenuntergang, wurden zwischen den Zelten gespannt und tanzten im Hauch des Arai. Knochen der größten unter wilden Tieren der Wüste, die sonst den Mittelstangen und Türpfosten der Behausungen der Bewohner vorbehalten waren, wurden mit Szenen ihrer Jagd beschnitzt und mit farbigen Symbolen des Dankes bemalt in den Sand gesteckt. Selbst die Asche der Lagerfeuer, die sonst der Zierde der Haut dient, wurde zu kunstvollen Mustern in den Sand gestreut, um von Arinai’Tors Mut zu künden. Nicht genug damit wurden seltene Steine aus dem benachbarten Thul’Tāri-Gebirge gesammelt und von den geschicktesten Handwerkern des Stammes zusammengefügt, bis sich ein kleines Abbild der Gefeierten auftürmte, das die Stärke ihres Blicks widergab, als diese dem Untier entgegentrat.

Als der Tag der Feier gekommen war, versammelten sich die Kinder der Gemeinschaft. Mit Schmucknarben übersäte Tänzer bewegten sich im Rhythmus der Trommeln, zeigten das Geschick ihrer Leiber und erzählten auf ihre Weise die Geschehnisse nach. Manch einer glaubte gar, die Tänzerinnen des Vetter Wind hätten von ihnen Besitz ergriffen und ihren Tanz unvergesslich werden lassen. Geschichtenerzähler mussten wieder und wieder die vielen Geschichten um diese große Tochter der Sāndari’Māna zum besten geben. Kinder schnitten Schilfruten von den Wasserlöchern der Siedlung und eiferten ihr nach. Selbst Vater Sonne und Vetter Wind ließen ihre Gaben zu einem warmen Luftzug zusammenfließen, der den Anwesenden versicherte, dass auch die Götter und Geister wohlwollend auf sie blickten.
So feierten die Bewohner von Thul’Varas Zuflucht Arinai’Tor, die starke Beschützerin, deren Name für immer in die Geschichten der Sāndari’Māna eingegangen ist. Sie lehrten ihre Kinder, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Mut und Gemeinschaft das Licht der Hoffnung neu entfachen können, so wie Arinai’Tor es vermocht hatte. Und hier hätte die Geschichte enden können – sollen, wenn man unsere Maßstäbe anlegt – doch da wir Geschichtenerzähler nicht die Kraft sind, die auf Auslöschung der nicht wie sie denkenden drängen, waren auch Boten der Ältesten unbehelligt unter den Feiernden.
Sie trugen die Abzeichen der Ältesten in Shānti’Kāla und waren in prachtvolle Gewänder gehüllt, die die Bewohner des kargen Wüstenhochlands in Erstaunen versetzten. Dunkel waren ihre Minen wie die Schleier der Staubstürme, die seit dem Beginn der Auseinandersetzung, seit dem Anfang ihrer Jagd auf die Geschichtenerzähler, vermehrt die Wüste heimsuchten. ”Arinai’Tor!”, rief einer von ihnen, seine Stimme rau wie vom Wüstenwind. ”Habt Ihr Kunde von der Bestie, dem Elun’K’Tāri? Wir fürchten, dass es umherstreift und die Geschichtenerzähler heimsucht. Wenn ihre Stimmen verstummen, wer soll dann noch die Pracht und Macht unserer Hauptstadt preisen?” So sprachen sie in ihrer Falschheit, denn insgeheim hatten sie gehofft, auf diese Weise elegant ihrer Widersacher entledigt zu werden.
Doch Arinai’Tor, deren Schritte Arai selbst nicht aus dem Sand zu tilgen vermag, lächelte ein Lächeln, das die Abendsonne verblassen ließ. ”Eure Sorge ist unbegründet!” antwortete sie mit einer Stimme so fest wie das Fundament von Shānti’Kāla. ”Das Elun’K’Tāri ist mir begegnet, doch wird es keine Angst mehr in die Herzen unseres Volkes tragen, sondern ihre Geschichten und Träume bereichern.” Als sie sah, dass diese Nachricht ihnen nicht behagte, erstarrte ihre Mine, wie das Friedensglas nach Mutter Donners mahnendem Blitzschlag erstarrt war. ”Euch aber lasst gesagt sein: Ich führe den Speer, nicht die Schreibbinse – und doch habe ich gelernt, dass der Wind der Inspiration dem Fels der Herrschaft ebenbürtig sein kann. Schon um meine gefallenen Gefährten zu ehren, werde ich die Geschichten von ihrem Heldentum und jene, die sie bewahren und erzählen, unter meinen Schutz nehmen wie die brütende Echse ihr Gelege. Wagt es nicht, euch an ihnen zu vergehen.”
Da erzitterten die Boten der Ältesten, denn selbst das wenige Gefolge, das Arinai’Tor geblieben war, wurde zur Schreckgestalt durch den Mut und die Entschlossenheit ihrer Anführerin. ”Nein, Arinai’Tor, versteh unser Anliegen nicht falsch – nicht um zu agitieren wagten wir uns unter die Geschichtenerzähler, die wenig Liebe für uns empfinden, nicht zum Zwecke der Spaltung wenden wir uns an Dich, sondern als Verteidigerin unserer Gemeinschaft.” Arinai’Tors Augen schienen Blitze zu werfen, dass Ina’Rai ihre Freude daran gehabt hätte, glaubte sie doch, auf diese Weise unterschwellig gegen ihre Gastgeber eingenommen werden sollte. Doch hastig fuhren die Boten fort: ”Nahe der Hauptstadt treiben Nebelgeister in großer Zahl ihr Unwesen. Die ersten Verzagten deuten sie als Vorboten des Niedergangs, als Bringer einer neuen Aschezeit. Dein Volk braucht Dich, Arinai’Tor – inspiriere die Jungkrieger der Reichsmitte, führe sie gegen die Geister. Niemals würden wir fordern, Dich zwischen den Geschichtenerzählern und uns zu entscheiden – nimm einige unserer Krieger und befreie uns von dieser Bedrohung, dann magst Du unbehelligt, ach was, als gefeierte Heldin Deiner Wege ziehen und dem Konflikt fernbleiben.”

Damit aber hatten sie den verletztlichen Punkt in ihrer Verteidigung gefunden, denn mütterliche Gefühle hegte die Heldin gegen die ganze Sāndari, auf welcher Seite sie auch standen. Mit den Zähnen knirschend machte sie auf der Stelle kehrt und rief ihre verbleibenden Truppen zusammen: ”Die Götter gönnen uns die Ruhe noch nicht – heute feiert, feiert das Leben, gedenkt der Gefallenen, die Großvater Sand zu sich nahm, Morgen aber brechen wir auf gen Norden, denn unsere Speere werden dringend ersehnt, um eine Bedrohung von den Unseren abzuwehren. Das Elun’K’Tāri aber schafft in eine geheime Grotte, bewacht von einem der Unseren, auf dass es keinem der Streithähne unter den Geschichtenerzählern und Ältesten zum Spielball werde.”
So sprach sie, und so geschah es, denn niemand wagte ihr Wort in Frage zu stellen.
Lunai’Arai’Mana, Geschichtenerzählerin der Sāndari’Māna, neuzeitlich