Der Aufbruch

Eine andächtige Stille durchdrang die große Höhle aus Eis tief unter Drakagard, der Hauptstadt des Reiches Isgorad. Dort, wo ewige Kälte herrschte und Sonne und Licht schnell in Vergessenheit gerieten, hatte sich eine große Anzahl bleicher Gestalten um einen Eisblock im Zentrum der Höhle versammelt.

Das Volk der Andar nannten sie sich, hochgewachsene Wesen mit weißer Haut und silbrigen Haaren. Fast schienen sie selbst aus Schnee und Eis zu bestehen. Schweigend und mit regungslosen Gesichtern blickten sie auf den Eisblock, in dessen Mitte eine Gestalt schwebte , die vom Eis umschlossen friedlich zu schlafen schien. Es war einer der Ihren, ein Andari mit einer Krone auf dem Haupt, in voller Rüstung mit einem Schwert an der Seite. Seit Urzeiten lag er dort ‒ Hochkönig Astharis, in ewigem Schlummer. Wartend.

So warteten auch die Andari seit langer Zeit geduldig darauf, endlich den Platz auf Darshiva einzunehmen, den das Schicksal für sie vorgesehen hatte. Nachdem die alles in Dunkelheit hüllende Asche sich vor wenigen Monden endlich gelichtet hatte, schien die Zeit nun gekommen.

Ein leises Raunen ging durch die Menge ‒ mit ernsten Gesichtern wandten die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit den drei Gestalten zu, die im Eingang zur Höhle erschienen waren. Still teilte sich die Menge und gab einen Weg frei, der vom Höhleneingang zu dem Eisblock in ihrer Mitte führte.

Langsam durchschritten die drei Gestalten die für sie gebildete Gasse, bis sie vor dem Eisblock zum Stehen kamen. Hinter ihnen schlossen sich wieder die Reihen der Anwesenden.

Vor dem ruhenden Hochkönig angekommen knieten sich die Neuankömmlinge nieder und senkten ihre Häupter. Ihrem Beispiel folgend taten es alle anwesenden Andari ihnen gleich.

Für eine gefühlte Ewigkeit blieben sie in dieser Haltung, bis sich zuerst die mittlere der drei Gestalten erhob und dann ihre beiden Begleiter. Die drei drehten sich zu der versammelten Menge um, die immer noch auf ihren Knien verharrte.

Die mittlere der Gestalten, ein männlicher Andari in schlichtem, grauen Gewand, dessen silbernes glattes Haar auf seine Schultern fiel, trat mehrere Schritte auf die versammelte Menge zu. Die Gestalt zu seiner Linken ‒ eine hochgewachsene weibliche Andari in weißem Gewand von graziler Gestalt, die ihren stolzen Blick durch den Raum streifen ließ ‒ blieb hingegen an Ort und Stelle stehen. Ebenso die Gestalt rechts von ihm ‒ ein großer, düster aussehender und schwer gerüsteter männlicher Andari, dessen Gesicht mehrere Narben zierten und dessen linkes Auge von einer Augenklappe verdeckt war.

Der in der Mitte stehende Andari richtete den ernsten Blick seiner grauen Augen auf die zahllosen Gesichter vor ihm. Mit klarer Stimme begann er zu den Versammelten zu sprechen:

„Volk der Andar, die Zeit des Wartens hat ein Ende. Viel zu lange schon waren wir zur Untätigkeit verdammt. Doch nun, da die Asche sich gelichtet hat, blicken wir einer neuen Ära entgegen. Was sie auch bereithalten mag, die Andari werden ihren Platz in dieser neuen Welt einnehmen und sich den möglichen Bedrohungen, die da draußen lauern mögen, unerbittlich entgegenstellen.

Möge Hochkönig Astharis eines Tages dem Eis entsteigen und unser Volk zu dem Ruhm alter Tage zurückführen. Bis zu seinem Erwachen wird der Rat der Drei die Herrschaft in seinem Namen und nach seinem Willen ausüben.

Delaria ‒ Sängerin des Eises, Eresthis ‒ Meister der Klinge und ich, Skytharis ‒ Gebieter der Worte geloben, unser Leben in den Dienst der Andari zu stellen. Wir werden dienen, gebieten und wenn es sein muss, für unser Volk sterben.

Nun, meine Freunde, es ist an der Zeit. Lasst uns ausschwärmen und herausfinden, was diese Welt für das Volk der Andar bereithält.“

Mit diesen letzten Worten schritt der Rat der Drei dem Höhlenausgang entgegen, gefolgt von einer nicht enden wollenden Schlange an Andari. Die große Höhle, die bislang nur von den Worten Skytharis erfüllt gewesen war, hallte nun von einem klaren Gesang aus unzähligen Kehlen wieder, der einerseits im unbeteiligten Zuhörer den Eindruck von Tatendrang hinterließ, ihm aber auch einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte.

gezeichnet
Der Bewahrer der Erinnerungen

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