Der Aufbruch ins Unbekannte

Der Tag des Aufbruchs war gekommen. Die dichten Nebel zogen über die Hochebene von Predgorje, und die Tore von Vel‘ki Vladogorsk öffneten sich schwerfällig. Razvechka Zhanna stand an der Spitze der Expedition und spürte die Kälte in ihren Knochen. Der Atem der Männer und Frauen dampfte in der kalten Luft.
Die Gruppe bestand neben ihr aus dem Krieger Borislav und einigen Kriegern der Garde, der Jägerin Milena und Tihomir, einem jungen Technologen, dessen Augen vor Aufregung leuchteten. Zhanna blickte zurück, hinauf zu den Mauern der Stadt. Sie meinte, eine vertraute Gestalt zu erkennen – Ugroz Velki, der dort stand und ihren Aufbruch beobachtete.
Eine Erinnerung schlich sich in ihren Kopf. Es schien Äonen her, dass sie zusammen gewesen waren, Ugroz und sie, als sie noch nicht Herrscher und Untergebene, sondern einfach zwei junge Vila mit dem Kopf voller Träume gewesen waren. Vom alten Reich hatten sie gesprochen, und davon, dass sie es eines Tages finden würden. Niemals hätten sie sich damals geträumt, dass dies nun wirklich möglich werden könnte!
Zhanna wandte sich wieder nach vorn, atmete tief durch und hob ihre Hand zum Signal. Mit einem leichten Kopfnicken zu Borislav, dem Krieger, der an ihrer Seite ging, setzte sie sich in Bewegung. Die Hochebene von Predgorje lag vor ihnen, eine raue Landschaft, von der nur die wenigsten Menschen behaupten konnten, sie jemals bis zu Ende durchquert zu haben. Und dahinter – die Nebelwälder.
Vel‘ki Vladogorsk war lange hinter dem Horizont verschwunden, als sie in die dichten, mächtigen Bäume hineinschritten. Die Wälder empfingen sie schweigend. Die Bäume ragten hoch hinauf, ihre Kronen schienen das Licht einzusperren, und alles um sie herum wirkte gedämpft und fremd. Der Boden war von Moos bedeckt, das wie ein weicher, lebendiger Teppich unter ihren Stiefeln nachgab. Der Nebel kroch wie schlangenartige Finger zwischen die Baumstämme und verlieh der Umgebung eine nahezu gespenstische Stimmung. Hier war die Luft dicht und schwer, das Sonnenlicht drang nur spärlich durch das dichte Blätterdach. Zhanna kannte diese Wälder gut – sie war hier aufgewachsen, hatte als Kind gelernt, sich lautlos durch das Dickicht zu bewegen, die Spuren der Tiere zu lesen und die verborgenen Gefahren zu meiden. Aber selbst sie konnte die Unruhe nicht ganz abschütteln. Niemand wusste, wo die Wälder endeten. So viele waren spurlos in ihnen verschwunden. Und es gab Gerüchte – Geschichten über Kreaturen, die seit der Dämmerung lauerten, verborgene Gefahren, die jeden, der unvorbereitet war, in die Tiefe zogen. „Mein Bruder ist in diesen Wäldern verschwunden“ murmelte einer der Kundschafter hinter ihr, ein alter Mann namens Igrin.
„Konzentriert euch,“ zwischte Zhanna ihn knapp an. Sie wusste, dass Igrin zu Recht Angst hatte, doch sie durfte keine zeigen. Nicht so kurz nach dem Aufbruch. Nicht jemals.

In den ersten Tagen ihrer Reise gab es nur kleinere Hindernisse. Ein reißender Bach musste überquert werden, und Borislav organisierte die Überquerung. Fast wäre einer der Krieger mit seiner schweren Ausrüstung in den tosenden Fluten verschwunden, wenn nicht Milena geistesgegenwärtig eingegriffen und ihn herausgezogen hätte.
In den Nächten erzählte Tihomir die alten Legenden – Legenden, die von den enormen Städten erzählten, die einst überall im Reich standen und dann im Nebel versunken waren. Davon, dass die großen Maschinen der Ahnen, auf denen die Macht der Vila fußte, noch hier schlummern müssten. Seine Augen glänzten vor Faszination, während er darüber sprach, diese uralten Geheimnisse zu entdecken und das Wissen der Vergangenheit wiederzuerlangen. Einige der Krieger jedoch schauten nur stumm ins Feuer. Die Ungewissheit und die immerwährende Kälte der Nächte setzten ihnen zu.

Das Verschwinden des Kriegers
Eines Nachts, ohne jede Vorwarnung, hörten sie plötzlich das Krachen von Bäumen und das Brüllen eines Untiers, das die Nacht zerriss.
„Achtung!“ schrie Borislav, als ein gigantischer Schatten auf ihr Lager zustürzte. Ein Untier – war es ein Bär? – größer als alles, was sie je gesehen hatten, stürzte auf Radomir, einen der schlafenden Krieger. Die anderen sprangen auf und griffen nach ihren Schwertern, doch noch ehe jemand reagieren konnte, zerrte er den Unglücklichen bereits mit zurück in die Finsternis hinter dem Feuerschein. Das Brüllen des Tieres und die Schreie des Mannes verloren sich schnell im dichten Nebel, der die Nacht verschlang. „Los, hinterher!“ brüllte einer der Krieger und mehrere der anderen sprangen auf, Waffen in der Hand. Doch Zhanna wusste, dass sie in der Finsternis des dichten Waldes keine Chance haben würden. „Halt!“ rief sie, ihre Stimme scharf und entschlossen. „Wir können nicht einfach blindlings hinterherlaufen. Ein heldenhafter dummer Tod ist immer noch ein dummer Tod!“
Borislav drehte sich wütend zu ihr um, seine Augen funkelten vor Zorn. „Wir lassen keinen der Unsigeren zurück! Er ist einer von uns, verdammt noch mal!“ Sein Schwert war noch erhoben, und der Rest der Krieger stand grimmig da und starrten sie mit einer Mischung aus Zorn, Angst und leichter Unsicherheit.
Zhanna trat einen Schritt vor, um Borislav direkt anzusehen. „Wir werden ihn nicht aufgeben. Aber wir haben eine Mission zu erfüllen. Wir müssen überlegt handeln, sonst sind wir verloren.“
Die Spannung in der Luft war greifbar, die Wut und die Angst der Krieger schienen förmlich zu vibrieren. Tihomir trat vor, seine Stimme leise, aber eindringlich. „Die Razvechka hat recht. In der Finsternis haben wir keine Chance. Wir müssen warten bis zum Morgengrauen und dann die Spur aufnehmen.“ Beinahe sah es so aus, als verweigerten ihn die Krieger den Gehorsam. Doch nach einem Moment der ewig zu dauern schien, senkte Borislav schließlich sein Schwert. „Sie hat recht, es wäre töricht“.
Schweigend und widerwillig kehrten die Krieger zu ihrem Lager zurück. Die letzten Stunden der Nacht fühlten sich an, wie eine Ewigkeit. Das Heulen des Windes klang wie das Echo der Schreie des verschleppten Mannes, und jeder Schatten schien von dem Bären belebt zu werden.

Die Jagd bei Tagesanbruch
In der ersten Dämmerung hatten sie das Lager bereits abgebrochen und nahmen die Verfolgung auf. Milena führte sie, ihre Augen konzentriert auf die Schleifspuren am Boden. Die Spuren waren tief und deutlich – das Untier hatte den Krieger förmlich durch den Wald gezerrt, Äste waren zerbrochen, und der Boden aufgerissen.
„Da lang“, murmelte Milena und zeigte auf einen schmalen Pfad, der tiefer in das dichte Unterholz führte. Die Gruppe folgte ihr, ihre Schritte schnell, doch leise. Jeder von ihnen war angespannt, das Wissen, dass das Tier jederzeit zurückkehren könnte, saß ihnen im Nacken.
Nach Stunden des Marsches entdeckten sie etwas Unerwartetes. Vor ihnen öffnete sich der Wald, und sie fanden sich auf einer Schneise wieder. Unter der Moosboden war deutlich zu erkennen: Steinplatten. Sie standen auf einer gigantischen Straße durch den Wald.
„Das… ist unglaublich“, flüsterte Tihomir, seine Augen geweitet vor Staunen. „Das muss eine Chaussee sein. Solche Straßen haben früher die Städte der Vila miteinander verbunden.
Die Schleifspuren durch das Moos waren deutlich zu erkennen und folgten der Chaussee. Das war ein Hoffnungsschimmer – und ein Rätsel. Wohin führte diese Straße?

In der Höhle des Biests
Bald bemerkten sie, dass rechts und links der alten Straße große verwitterte Gebäude erhoben. Die meisten waren verfallen. Die Fährte durch das Moos führte sie schließlich durch das Unterholz in einen abgetrennten Komplex aus verschiedenen Hallen, wo sie sich verlor.
Während sie den Komplex durchstreiften erkannten sie, dass einige eingestürzt waren, doch andere erstaunlich gut erhalten. Durch die klaffenden Löcher in den Hallen erblickten sie gigantische Zahnräder, mannshohe verrostete Klingen und Sägeblätter, Monumente einer verlorenen Zeit. Tihomir konnte seine Begeisterung kaum verbergen. So viele alte Maschinen warteten hier nur darauf, wieder entdeckt zu werden. Zhanna legte ihm die Finger auf die Lippen. Die Ruhe des Ortes war trügerisch.
Milena, die eine Gallerie an einer der Hallen erklommen hatte, zeigte auf eine der Hallen und bedeutete ihnen, zu lauschen. Nun hörten es auch die anderen: Ein tiefes Grollen, das wie ein Echo von den alten Mauern zurückgeworfen wurde. „Das muss das Nest des Untiers sein“, flüsterte Borislav. „Er hat sich hier eingenistet.“
Langsam betraten sie die Halle. Die Luft war stickig und roch nach Moder und altem Blut. In der Mitte der Halle lag der riesige Bär, schlafend, flankiert von seinen Jungen. Zhanna entdeckte Bewegung in einer Ecke – der verschleppte Krieger, schwer verletzt, lag regungslos am Boden. Darüber gebeugt, an einem Arm kauend – das Untier.
„Dort drüben“, flüsterte Milena und deutete auf die Stelle.
Borislav zog sein Schwert, doch Zhanna schüttelte den Kopf und zeigte nach oben. Über ihnen hingen massive, rostige Metallapparate von der Decke, Überreste von Maschinen, deren Zweck wer weiß was gewesen sein mochte.

„Wenn wir die Apparaturen zum Einsturz bringen, können wir den Bären erschlagen“, flüsterte Razvechka entschlossen.
Borislav sah sie entsetzt an “Vielleicht lebt er noch!“. Doch sie schüttelte den Kopf. „Es ist unsere einzige Chance.“
„Ich werde hochklettern und die Verbindungen lösen. Ihr bleibt bereit, wenn etwas schiefgeht.“ Zhanna wusste, dass es riskant war, aber es war die einzige Möglichkeit.
Sie kletterte geschmeidig die alten Balken empor, jeder Griff musste sicher sein, jeder Schritt vorsichtig. Der Geruch von rostigem Metall und etwas Unbestimmbaren hing in der Luft, während sie sich Stück für Stück nach oben arbeitete. Unten warteten Borislav und Milena, bereit, einzugreifen, sollten die Bären erwachen.
Als Zhanna die Apparaturen erreicht hatte, sah sie die rostige Kette, die die massive Konstruktion hielt. Sie ergriff eine Stahlstang und schob sie zwischen die Kettenglieder. Mit aller Kraft zog sie daran, spürte, wie das Kettenglied langsam nachgab. Das Untier stand plötzlich auf, blickte sich um und begann zu schnaufen.
„Jetzt, Razvechka, jetzt!“, flüsterte Milena eindringlich. Mit einem letzten Ruck warf Zhanna ihr ganzes Gewicht gegen die Kette, und die riesige, eiserne Apparatur stürzte mit einem ohrenbetäubenden Krachen hinab. Das Untier hatte keine Chance – die massiven Metallteile schlugen auf es ein, das Brüllen des Tieres wurde jäh unterbrochen. Staub und Dreck wirbelten durch die Halle, und für einen Moment war nichts zu sehen.
Als sich der Staub legte, sah Razvechka, dass die Bären regungslos am Boden lagen. Sie kletterte langsam hinunter, ihre Hände zitterten vor Anstrengung. Milena und Borislav eilten zu dem verschleppten Krieger.
„Er… er atmet nicht mehr“, sagte Milena leise, während sie die Augen des Kriegers schloss.
Ohne sie eines Blicks zu würdigen, stand Borislav auf und verließ die Halle.

Der Blick in die Vergangenheit
Am frühen Morgen, nach der Nacht des Angriffs, entschied sich Zhanna, auf einen der enormen Schornsteine des Sägewerks zu klettern, um eine bessere Sicht auf ihre Umgebung zu bekommen. Die Gruppe wartete am Boden, während sie sich mühsam den hohen Schornstein hinaufarbeitete. Ihre Finger griffen nach alten Griffen, der rostige Metallgeruch erfüllte ihre Nase.
Oben angekommen, wurde sie von einer scharfen Brise begrüßt. Sie atmete tief ein und blickte um sich. Vor ihr erstreckten sich die endlosen Wälder, ein grünes Meer, durchzogen von Nebelschleiern. Doch in der Ferne: Berge – hoch aufragend und schroff. Ihr Blick wanderte über die Bergkette, bis sie etwas entdeckte: Dort, am Horizont, aber deutlich zu erkennen, standen zwei Türme, alt und verwittert, doch immer noch stolz gegen den Himmel gerichtet. Eine breite Straße, führte aus dem Nebelmeer in Serpentinen zu ihnen hinauf. Diese Türme, daran gab es keinen Zweifel, waren ein Zeichen des alten Reiches.

Langsam kletterte Razvechka wieder hinunter, jeder Schritt bewusst und vorsichtig. Am Boden angekommen, sahen alle gespannt zu ihr auf. Borislavs Miene war steinern, doch aus ihren Augen flammte Entschlossenheit.
„Die Türme in den Bergen“, sagte sie, ihre Stimme fest. „Sie könnten ein Tor sein, zum verlorenen Tal der alten Vila. Der Pfad, den wir gefunden haben, war einst eine große Straße. Wir werden ihr folgen und so als erste Vila die Nebelwälder durchqueren.“ Die Gruppe, erschöpft und durch die vergangenen Ereignisse zermürbt, spürte dennoch, wie sich neue Hoffnung in ihnen regte. Borislav nickte langsam. „Dann lasst uns aufbrechen und hoffen, dass Radomirs Opfer nicht vergebens war“, sagte er.
Razvechka dachte an Ugroz, an die Träumereien ihrer Jugend. Und jetzt, in diesem Moment, war sie näher dran als jemals zuvor.
Schweigend sammelten sie ihre Ausrüstung und verließen die untergegangene Stadt der alten Vila auf einer weiteren, überwucherten Chaussee in Richtung der Berge, einer ungewissen Zukunft entgegen.

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