Die Weihe der Hal Am’Vnelayjah

im 1. Mondlauf nach der Asche

Schon Stunden vor Beginn der Zeremonie hatten sich einige Bürger Al‘Umbryjils zu den Stufen des großen Tempels in Dal Am’Shyjiv versammelt. Auch ich war frühzeitig vor Ort, um einige der Stimmen aus dem Volke für meine Niederschrift einzufangen.

Die Entscheidung des Reichsrats zur Ernennung der neuen Hal Am’Vnelayjah1 hatte einige Verwunderung unter den Bürgern hervorgerufen und die Meinungen darüber gingen weit auseinander. Nachdem Seval Yshav Allahnyjam in hohem Alter verschieden war, fiel die Wahl zum neuen Reichsoberhaupt auf Ghalynija Suneya Vermyn. Noch nie hatte es eine so junge Reichsvertreterin oder einen so jungen Reichsvertreter gegeben. Und das zu dieser Zeit, wo berichtet wurde, dass sich erste Landstriche vom Aschenebel befreit hatten und niemand wusste, was uns in naher Zukunft bevorstand.

Am großen Eingangsportal hatten sich inzwischen zwei Priester der Vnelyra2 aufgestellt und wiesen die ersten Neugierigen an, Abstand zu halten.
Keine zwei Schritt von mir entfernt standen eine Frau und ein Mann – offenbar ein junges Paar – wartend, die Arme vor der Brust verschränkt.
“Dass diese barbarische Zeremonie noch immer stattfinden muss… Warum findet die Einweihung überhaupt vor dem Tempel statt und nicht vor dem Ratsgebäude?”, sagte sie, mit einem kritischen Blick auf die beiden geschäftigen Priester.
“Na, weil es eine Weihe ist. Erkennt man doch schon am Wort ‘Einweihung’. Und das ist die Domäne der Priester.”, antwortete der junge Mann, ebenfalls die Augen auf den Eingangsbereich des Tempels gerichtet, “Außerdem ist es doch gut, wenn sie ihr den Segen Vnelyras mit auf den Weg geben… Und nenne es bitte nicht barbarisch. Das ist eine traditionelle Weihe. Du solltest nicht den Glauben unseres Volkes mit solchen Aussagen beschmutzen.”
Nur kurz blickte die junge Frau zu ihm hinüber. Dann nickte sie langsam, die Augen wieder auf dem Portal des Tempels verweilend. “Du hast recht… Vnelyra verzeih’.”
Schweigend standen sie da, während sich nach und nach weitere Feuerelfen um mich scharten. Eine Familie aus meiner Nachbarschaft fand sich in meiner Nähe ein. Zur Begrüßung nickten wir uns freundlich zu. Der nur zehn Weltenläufe alte Junge reckte sich, um über die Köpfe der anderen Wartenden sehen zu können und der Vater hob ihn auf seine Schultern, als er den fruchtlosen Versuch bemerkte.
“Wie lange dauert es denn noch, Papa? Was machen die Priester da? Lassen die die Leute nicht rein? Warum dürfen wir heute nicht einfach in den Tempel? Und wann geht das mit dem Feuer los?”
Die Fragen des Jungen jagten einander, ehe der Vater in der Lage war, eine Antwort zu geben.
“Hab’ Geduld, Bynjis.”, sprach die Mutter, “unsere neue Hal Am’Vnelayjah wird für die Zeremonie vorbereitet.”
“Von den Priestern, Mama? Sprechen sie zu Vnelyra und verkünden ihren Willen der neuen Reichsvertreterin?”
Die Augen der Eltern trafen sich, ehe der Vater zögernd antwortete: “Gewiss, mein Sohn. Gewiss.”
“Wenn ich groß bin, werde ich auch Priester. Dann kann ich auch mit Vnelyra sprechen.”
“Das kannst du doch auch jetzt schon.”, erwiderte die Mutter.
“Ja, aber sie antwortet mir gar nicht.”
Es dauerte einen Augenblick, dann strich die Mutter sanftmütig lächelnd mit ihrer Hand über die des Jungen. “Ich bin mir sicher, dass sie antwortet. Vielleicht können wir es nur nicht hören.”
Manche der anderen Umherstehenden, welche den Wortwechsel ebenfalls vernommen hatten, blickten wohlwollend und bestätigend zu der Mutter hinüber. Andere wirkten nachdenklich, fast schon betroffen.
Eine Frau, welche schon deutlich vom Alter gezeichnet war, blickte zu dem Jungen auf den Schultern seines Vaters hinauf. “Mein Leben zählt schon so viele Mondläufe und ich spreche jeden einzelnen Tag zur großen Göttin und lasse all mein Handeln von ihr leiten.”

Selbst mich ließ diese Situation nicht gänzlich unberührt und ich konnte mich dem Gedanken nicht erwehren, dass es fast schon an ein Wunder grenzte, dass der Glaube an Vnelyra im Volke noch immer so stark und lebendig ist, obgleich die Götter seit dem Kataklysmus jegliche Präsenz vermissen lassen. Nur Geschichten erzählen noch davon, dass die Priester einst mächtige Wunder im Namen der Feuergöttin vollbrachten und als ihr direktes Sprachrohr zu dienen vermochten. Alles was von diesen Zeiten übriggeblieben ist, ist der Glaube daran, dass Vnelyra uns noch immer erhört und eines Tages in all ihrer Pracht zurückkehren wird.

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ein breiter Kerl mich unachtsam an der Schulter anrempelte. Er gehörte zu einer kleinen Gruppe aus sieben Männern und Frauen, welche sich gerade eingefunden hatten und versuchten, sich noch einen Standort zu ergattern, von wo aus man den Tempeleingang gut erbklicken konnte. Ich erkannte den jungen Mann in ihrer Mitte als Sylshah Belqhain, den Sohn des Oberhauptes der Thulayesh, einer Qhabya3 aus den ärmeren Stadtvierteln. Er ließ es sich trotz der kritischen Blicke einiger anderer Bürger nicht nehmen, seinen Unmut kundzutun.
“Mal schauen, was die Kleine so zu bieten hat. Wir wären alle besser beraten, wenn mein Vater heute da oben stehen würde… oder ich!”
Er tauschte ein breites Grinsen mit dem Mann neben ihm, welcher umgehend erwiderte: “Na, dann los – es sind ja nur ein paar Steinstufen da hoch. Die haben bestimmt schon auf dich gewartet!”
Sylshah verzog seinen Mund. “Red doch keinen Qhybeshdung4!”

Dann erklang der große Tempelgong und die Stimmen der Anwesenden – mit einigen offensichtlichen Ausnahmen – erhoben sich zu einem freudigen Jubel, als der oberste Priester aus dem Portal des Tempels trat, gefolgt von Ghalynija Suneya Vermyn, unserer künftigen Hal Am’Vnelayjah.
Neben ihnen schoben zwei Tempeldienende auf einem hölzernen Fahrgestell den großen bronzenen Sprachtrichter, welcher für Ansprachen bei größeren Ereignissen genutzt wurde.
In alten Zeiten soll die gottgegebene Aura der Priester und Priesterinnen allein schon ausgereicht haben, um ihre Stimmen auch über die größten Plätze des Reiches vernehmbar zu machen – zumindest berichtet man dies in Geschichten und Legenden.
Der Priester, gekleidet in einer prächtigen Robe, verziert mit den goldglänzenden Symbolen unserer höchsten Göttin, trat an den Trichter. Die neue Reichsrepräsentantin, gekleidet in eine schneeweiße Tunika mit eher schlichten Ornamenten, gehalten von einem breiten Ledergürtel, und nur mit einfachstem Silberschmuck, wirkte unterdessen neben dem vor Prunk strotzenden Götterdiener beinahe wie eine einfache Magd. Lediglich der kleine aber feuerrote tropfenförmige Rubin auf ihrer Stirn deutete auf ihren Stand hin.

Die Menge verstummte, als der Priester seine Stimme erhob:
“VNELYRA SEI MIT EUCH! IHR FEUER ERFÜLLE EURE HERZEN.”

Während ein großer Teil der Zuschauer gebannt auf den Priester starrte und an seinen Lippen hing, hörte man hier und dort auch halblaute Unterhaltungen oder Kommentare, welche vermeintlich geflüstert waren, jedoch etwas zu laut gerieten. Der Stand der Priesterschaft und die Meinung über ihre Legitimation waren in den letzten zwei bis drei Generationen nicht gerade von einer positiven Entwicklung beseelt. Auch wenn der Glaube selbst noch stark ist im Volk, halten viele junge Vnelayjah die Funktion der Götterdienenden für gestrig und überholt.
Die Ansprache des Priesters war ausschweifend und sehr würdevoll. Und er führte etliche Meilensteine aus dem Schaffen Seval Yshav Allahnyjams, des bisherigen und nunmehr verstorbenen obersten Reichsrates, an und berichtete, wie er das Volk durch die düsteren Zeiten geführt hatte, welche nun womöglich einem neuen Erblühen Al’Umbyjils weichen sollten.
Ghalynija Suneya Vermyn, die künftige oberste Reichsrätin, stand reglos und blickte auf die Menge unter ihr und um sie herum, ohne eine Mine zu verziehen. Manche im Volke hielten sie für eingebildet und überheblich oder sagten, sie habe jenen Posten nur erhalten, weil sie eine Nachfahrin Assul Merqhay Vermyns sei, dem Begründer der repräsentativen Volksherrschaft und der ersten frei gewählten Hal Am’Vnelayjah. Andere sagten, sie sei auserwählt, da unter manchen im Volk der Glaube herrscht, weiße Haare seien ein Zeichen dafür, dass jemand vom Schicksal zu Außergewöhnlichem erkoren sei.
Ich maße mir nicht an, mir ein Bild von ihr zu machen, ehe die Zeit gezeigt hat, wie sie sich bewährt. Ich glaube vielmehr, dass all jene Aspekte die Last der Erwartungen aus dem Volke auf ihren jungen Schultern um so drückender werden lassen. Und ich frage mich höchstens, warum die Wahl des versammelten Reichsrates auf sie als Vorstehenden anstatt auf eines der älteren und erfahreneren Ratsmitglieder gefallen ist.

Meine Blicke streiften unterdessen über die Menge. Insbesondere in den Augen der Bewohnerinnen und Bewohner der ärmeren Stadtviertel war eine Bandbreite von Hoffnung über Neid bis hin zu Verachtung zu erkennen, was angesichts des Prunks der Priesterschaft nicht zu verdenken war. Auch auf den Zügen Sylshah Belqhains, des jungen Thulayesh, und den andern Angehörigen seiner Qhabya zeichnete sich regelrechte Missgunst ab.

Und dann kam der Moment auf den zumindest jene nur gewartet hatten, die mehr aus Sensationsfreude und Unterhaltungsdrang an jenem Tage anwesend waren.
Im Rücken der zu weihenden Amtsträgerin aus dem bis dato dunklen Tempelportal wuchs der Schein lodernder Flammen empor und ihre Gestalt erschien wie in Flammen gehüllt, als zwei Tempeldienerinnen die große Feuerschale heraustrugen, während der Hohepriester begleitend sprach:
“… und so wie es die Tradition verlangt, wird Vnelyra selbst das neue Oberhaupt unseres Volkes berühren und segnen, aufdass ihre Führung von ihrer Weisheit, Macht und Herrlichkeit erfüllt sein möge.”
Nun trat Ghalynija Suneya Vermyn selbst an den Sprachtrichter. Ihre Stimme war hell, aber dennoch fest und entschlossen und sie erscholl über den ganzen Platz hinweg, als sie die Worte sprach, mit welchen bereits ihr Urahne und jede andere Hal Am’Vnelayjah ihr ehrenvolles Amt angetreten hatten:
“MEIN LEBEN DEM VOLKE!”

Jubelrufe waren aus der Menge zu hören. Selbst skeptischere Zuschauer ließen sich von der Dynamik der Masse mitreißen und die Stimmen wurden immer dichter und lauter.
Aus der Entfernung mochte man nicht erahnen, ob sich nun im Gesicht der jungen Feuerelfe doch eine Emotion zeigte, als sie um die Feuerschale herumging, bis sie mit Blick auf die Menschenmassen vor dem lodernden Feuer stand. Dann entblößte sie ihren linken Arm. Der Hohepriester überreichte ihr mit einer feierlichen Geste den rituellen Dolch der Feuergöttin. Mit starrem Blick legte sie die Klinge an ihren Unterarm und schnitt hinein, dass das Blut herausquoll.
Es heißt, dass das Blut der herrschenden Priesterinnen und Priester in Urzeiten selbst Feuer gefangen habe wie das Öl einer Lampe und die Flammen dennoch keine Spuren auf ihrer Haut zurückgelassen hätten. Ein Zeichen, dass sie Vnelyras Gunst und Schutz genossen. Nicht mehr als eine alte Legende. Und dennoch hofften einige wohl bei jeder einzelnen Weihe, dass dieses Wunder erneut geschehen würde, um die Wiederkehr der großen Feuergöttin einzuleiten.
Aus der Entfernung war es nicht zu hören, aber man konnte sich vorstellen, wie das gerinnende Blut zischende Laute von sich gab, als die neue Hal Am’Vnelayjah ihren Arm über die Schale erhob und die Flammen ihre Haut und ihr Fleisch versengten.
So stand sie da – regungslos, stoisch – ertrug die sicher unnachahmlichen Schmerzen. Sekunden verstrichen wie Stunden.
Egal was man über diese Frau sagte, ihre Willenskraft und ihre Disziplin waren erstaunlich. Das, was sie für alle vernehmlich ausgesprochen hatte, war kein leeres Versprechen gewesen – keine hohlen Worte um der Feierlichkeit willen. Sie würde alles für ihr Volk geben. Jeder auf diesem Platz musste einfach spüren, dass Al’Umbryjil mit Ghalynija Suneya Vermyn an der Spitze eine neue Ära bevorstand.
Nur einige wenige mit sanfteren Gemütern wandten sich von dem Schauspiel ab, während der Jubel der übrigen Menge zu einem ohrenbetäubenden Tosen anschwoll.
Nur mit Mühe vernahm ich die Worte des bulligen Thulayesh neben mir:
“Und… wärst du jetzt immer noch gerne an ihrer Stelle?”
Gefolgt von der abschätzigen aber auch etwas kleinlaut wirkenden Stimme Sylshah Belqhains:
“Ach, halt dein Maul!”

niedergeschrieben von
Qharym Seval Bejlihm
Freier Schreiberling des Volksboten von Dal Am’Shyjiv,
erste der Städte von Al’Umbryjil
im 1. Mondlauf nach der Asche


1) Hal Am’Vnelayjah bedeutet wörtlich übersetzt “Seele des Volkes” und bezeichnet das oberste Mitglied und Vorsitz des Reichsrates von Al’Umbryjil. Der Rat besteht aus sieben vom Volk gewählten Personen, welche wiederum aus ihrer Mitte die Hal Am’Vnelayjah erwählen.

2) Vnelyra ist die Göttin des Feuers und des Lebens, höchste der Gottheiten der Feuerelfen.

3) Eine Qhabya ist eine Art Clan. In Al’Umbryjil hüten diese in der Regel je eines oder gar mehrere Stadtviertel, wobei “Hüten” hier ein wohlwollender Begriff ist und manche durchaus von Kontrolle sprechen. Während in den wohlhabenderen Vierteln traditionelle Qhabya die Oberhand haben, sind es in ärmeren Vierteln meist undurchsichtige Gilden oder ähnliches, welche nur zum Wohle des Zusammenhalts und der Einigkeit in diesen schweren Zeiten toleriert werden.

4) Ein Qhybesh ist eine Kreuzung aus einem Esel und einem Wüstenpferd. Andernorts würde man dies vermutlich als Maultier bezeichnen. Die Fäkalien dieser Tiere sind nur sehr bedingt als Dünger einsetzbar und allein die Not trieb in der Vergangenheit viele dazu, sie auf diese Art zu verwenden. Seitdem ist Qhybeshdung ein geflügeltes Wort für Gerede, welches einen tieferen Sinn vermissen lässt.

Siehe auch: