Eine kräftige Hand griff nach einem der borkigen Holzscheite und warf ihn zielsicher in die Glut im Kamin. Funken stoben auf und eine kleine Fahne aus dünnem Rauch strich über die vom Ruß geschwärzte Wand. Nur wenige Augenblicke später fing der Scheit Feuer und das flackernde Licht erhellte ein altes knorriges Gesicht mit einem langen grauen Bart. “Es muss ein Omen sein!” Die tiefe Stimme und deren Klang erinnerten an das Brüllen eines Braunbären. “Der Nebel scheint sich zum ersten Mal seit hunderten von Jahren zu lichten und gleichzeitig stoßen unsere Minenarbeiter auf die längst verschollen geglaubte Halle der Könige? Das ist mehr als ein Zufall!” Eine weitere Gestalt, die im schwachen Feuerschein kaum zu erkennen war, gab ein ebenfalls sehr tiefes Grummeln von sich. “Niemand glaubt heutzutage mehr an Omen. Es ist alles gut so wie es ist, wieso sollten wir daran etwas ändern? Und es ist Nebel. Der verändert sich nunmal. Bestimmt ist er morgen wieder so dicht wie eh und je.” Kurzzeitig war nur das Knistern des Feuers zu hören. Und ganz leicht im Hintergrund das nie verstummende Hämmern in den Schmieden. Dann erklang eine weitere Stimme in ähnlicher Tonlage wie die ersten beiden. “Der Nebel zieht sich zurück!” Eine Faust traf mit voller Wucht auf einen Tisch. “Daran gibt es keinen Zweifel! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.” Das Kratzen eines Bartes auf Leder begleitete die Aussage des Vierten in der Runde. “Wir haben es gesehen! Noch nie in meinem doch recht langen Leben war es mir bisher möglich gewesen, das Gletschertor zu durchschreiten und den kühlen Wind der Berge in meinem Gesicht zu spüren. Gestern habe ich es getan und der Wind, meine Brüder, kündet von einer neuen Ära!” Die letzten Worte waren wahrlich fast gebrüllt und alle Augen richteten sich nun auf die fünfte Gestalt am Tisch. Weißgraues Haar und ein ebenso ergrauter Bart zeugten von ihrem hohen Alter und die abwartende Haltung der anderen schien deutlich zu machen, dass die Meinung des Alten hoch geschätzt war. Seine Stimme glich eher dem Krächzen eines Raben, doch keinesfalls brüchig oder unsicher. “Wir alle kennen diese Welt nur als Gefangene des Nebels. Selbst ich, der älteste noch lebende Davara, bin im Nebel geboren. Und doch war meine Hoffnung immer ungebrochen, dass unser Volk eines Tages wieder die alten Wege beschreiten wird und wir das Joch dieser Gefangenschaft abstreifen können.” Selbst das Feuer schien innezuhalten und darauf zu warten, dass der Alte die nächsten Worte sprach. “Wir haben die Halle der Könige entdeckt und das ist wahrlich ein Grund zur Freude. Die alles entscheidende Frage ist jedoch nicht, ob sich der Nebel zurück zieht oder nicht, sondern ob die blauen Flammen des Nor’Ron noch brennen.”
…
In der Halle der Könige in Nor’Rakhan, verborgen unter den imposanten Gipfeln der Eisberge, herrschte eine ehrfürchtige Stille. Der majestätische Thronsaal war vorbereitet für ein Ereignis von größter Bedeutung: die Krönung eines neuen Königs. Diese heilige Zeremonie, die seit Jahrhunderten nicht mehr stattgefunden hatte, würde ein neues Kapitel in der Geschichte der Nor’Davara einläuten. Die große Halle ist ein beeindruckendes Kunstwerk aus Eis und Stein, mit kunstvoll geschnitzten Eissäulen und frostigen Mosaiken, die die Heldentaten vergangener Könige darstellen. Das Licht von tausenden glitzernden Eiskristallen hing in der Luft und reflektierte die wenigen Strahlen des winterlichen Sonnenlichts, die durch die hohen, mit Eis verzierten Fenster fielen. Der gesamte Raum schien in einem ätherischen, blauen Schimmer zu leuchten, als der zukünftige Tharn Davara die Halle betrat. Ein Zwerg von imposanter Statur, mit tiefschwarzem Haar und Bart und Augen, die wie das tiefste Eisblau leuchteten, schritt durch die Reihen der versammelten Davara. Nur seine Schritte unterbrachen die ehrfürchtige Stille. Er trug eine traditionelle Krönungsrobe aus weißem Fell und blauem Samt, die einst den großen Ahnen gehört hatte. Sein Ziel war das Nor’Ron, das ewige Eisfeuer, in der Mitte des Raumes. Dieses magische, blaue Feuer, das niemals erlosch, ist das Herz und die Seele von Nor’Rakhan. Ein Symbol der unvergänglichen Macht und des Erbes der Eiszwerge. Und obwohl sämtliche Magie von Darshiva verschwunden war, brannte es noch immer. Ein alter Zwerg mit langem, weißem Bart und tiefen Falten im Gesicht erwartete den zukünftigen König und als er näher kam, erhob der Alte seine Hände und sprach heilige Worte, die den Segen der Ahnen herbeirufen sollten. Der junge Zwerg kniete nieder und empfing mit gesenktem Kopf die Krone Nor’Rakhans, ein kunstvoll gearbeiteter Kranz aus funkelnden Eiskristallen. Danach erhob sich der neue Tharn Davara, trat zum ewigen Feuer und legte seine Hand hinein. Die blauen Flammen umhüllten seine Hand, doch anstatt zu brennen, schienen sie den Zwerg mit einer uralten, kühlen Macht zu durchdringen und ein leichter Nebel bildete sich um seine Hand. Mit diesem Akt der Verbindung war die Bestätigung des Königs vollzogen. Die Hand noch im Feuer sprach er den heiligen Eid auf die Ahnen und das Volk der Eiszwerge.
Var‘Zar vorna Nor‘Ron dur thorem Zar thar Goran,
thrak Nolandar Tharn Davara,
Mirak Darak Tharnak Nor‘Davara mirnoth.
Thrak Durak ran Tharn,
Tharak Torin tharnak Hekad Vorak,
Darin Davara dur Darin Nolandar.
Thrak thar Ran’Thar Ranvor Goran,
mirgor ranran Vrakhan Rakhan Zar’Ad Nor’Danor,
tharnak Vrakor Ran’Thar Thar.
…
Der gesamte Eid wird irgendwann in zukünftigen Berichten seinen Platz finden.
…
Nachdem der Eid geschworen war, zog der König seine Hand aus dem Feuer und erhob sie, um das versammelte Volk zu grüßen. Die Stille wich einem donnernden Applaus und jubelnden Rufen, als die Eiszwerge ihren neuen König willkommen hießen.
Auszüge aus dem Vne Tharn
“Die Entscheidung” & “Die Krönung von Nolandar Tharn”
Niedergeschrieben von Grinor Feuerbart
Davararischer Liederschmied des Reiches Nor’Davara.
Vorak Ak – Vorak Tharn / 1. Mondlauf nach dem Nebel