Erwachen

Rhodans Brust schmerzt bei jedem Atemzug. Es fühlt sich an, als würde er keine Luft bekommen. Sein Kopf dröhnt. Er ist kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Was ist geschehen? Er kann sich nur noch daran erinnern, dass er geritten ist. Schnell wie der Wind war er den Waldpfad entlang geeilt, getrieben vom jugendlichen Übermut. Plötzlich hatte er etwas aus dem Augenwinkel erspäht, ein Stein oder Ast auf dem Pfad, etwas was gestern noch nicht da gelegen hatte. Er erinnert sich an das Gefühl der Schwerelosigkeit, als sein Reittier ins Straucheln geriet und er fiel. Er erinnert sich an den Moment des Aufpralls, so als wäre es nicht ihm passiert, sondern jemandem, dem er dabei zusah. Sein Körper schlug heftig auf – er hörte das Knacken, als dem Beobachteten die Beine brachen. In diesem Augenblick trifft ihn der Schmerz wie ein Hammer, durchzieht ihn wie brennendes Feuer. Der Atem in seiner Brust wird noch knapper. Er hebt den dröhnenden Kopf aus dem feuchten Boden, blickt hinab an seinem Leib – weiße Knochen und rotes Fleisch. Er beginnt zu schreien, ehe ihn Schwärze einhüllt. 

Wie lange war er nicht bei Bewusstsein? Er weiß es nicht, als er die Augen aufschlägt. Es ist dunkel geworden. Der feuchte Boden ist kalt hat die Wärme aus seinem Körper gesogen wie ein Parasit. Noch immer dröhnt sein Kopf, der Schmerz in den Beinen ist zu einem ständigen Hintergrundrauschen geworden, doch die Kühle in seinen Gliedern betäubt den Schmerz etwas. Er weiß, dass er hier nicht liegen bleiben kann – tut er das, ist das sein Ende. Der Versuch sich erneut aufzurichten endet mit einem Schmerzensschrei in der Nacht. Er fällt zurück und spürt wie ihm die Sinne erneut zu entschwinden drohen, doch diesmal bleibt die vom Schmerz befreiende Bewusstlosigkeit aus. 

Ein Rascheln aus dem Schilf hält ihn davon ab, erneut abzudriften. Er dreht sein Haupt und versucht, etwas in der Finsternis zu erahnen. Eine Bewegung in der Dunkelheit. Erst denkt er, es ist eine Schlange. Doch was sich dort bewegt, scheint eher eine Art Insekt zu sein – ein langer schlanker Körper, segmentiert mit Chitinplatten und dünnen Beinen, höchstens so lang wie seine Hand. Fühler tasten ins Dunkel über die Wasseroberfläche, Holz und Stein. Das Licht des Mondes spiegelt sich für einen Herzschlag in scharfen Beißwerkzeugen und seelenlosen Facettenaugen. Es bewegt sich nur schleppend. Einige der kleinen Beinchen schleifen den Leib hinter sich her, ein Stück des Hinterteiles scheint herausgerissen zu sein – weißes Sekret tropft von der Wunde. Das Wesen ist verletzt. Rhodan will fliehen, doch sein Körper versagt ihm den Gehorsam. Die Kreatur krabbelt weiter heran, doch Rhodan kann nicht weg. Er spürt, wie die Kälte sich ausbreitet, wie das Leben aus dem geschundenen Leib rinnt. Er sieht das Wesen näher kommen, die Beißwerkzeuge zucken. Er stellt sich vor, wie das Tier beginnt, an ihm zu nagen, zu reißen, ihn zu fressen. Das Wesen klettert auf seinen Körper. Das Gewicht – obwohl nur unbedeutend – entfacht erneut das Feuer der Schmerzen. Rhodan schreit, das Wesen schnellt vor. Er spürt, wie es in seinen Rachen dringt, wie Fühler in seinem Mund tasten, kleine Beine die Haut seiner Mundhöhle aufreißen, er würgt… und stirbt. Für einen Herzschlag fragt er sich, wie lange er noch gelebt hätte, wenn das Wesen ihn nicht gefunden hätte? Stunden? Minuten? Nun ist es gleich – das Ende ist nah. 

Rhodan blinzelt benommen in das grelle Sonnenlicht. Er hebt seine Hand um Schatten über die Augen zu werfen und stellt verwundert fest, dass er sich mühelos bewegen kann. Langsam richtet er sich auf und betrachtet seine Beine. Sie sind gesund – keine Wunden, junge Haut. Er fasst sich an den Hals, erinnert sich an das Wesen, das ihn angegriffen hat. Nichts – auch hier keine Wunden, keine Schnittverletzungen im Mund. Langsam stemmt er sich hoch, steht auf und seine Beine tragen ihn. Rhodan fühlt sich so gesund und kräftig wie noch nie.  Er macht die ersten Schritte, als er etwas Ungewöhnliches bemerkt. Erst ist es ein seltsames Rauschen in den Ohren, dann wird es zu einer sanften weiblichen Stimme. Wie vom Blitz getroffen bleibt Rhodan stehen und lauscht dem Geräusch, das nicht aus dem Wald, sondern direkt aus seinem Geist zu kommen scheint.

„Ich bin Amerest, Königin der Dalaar, verzeih mir bitte meinen Überfall, Rhodan, doch nur so konnte ich uns beide retten.”

Niederschrift eines unbekannten Verfassers

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