Ich wurde gewählt!
Eigentlich wollte ich es gar nicht, hatte nie die Absicht, mich als erster Luchd-Labhairt anzubieten. Bis heute war auch gar nicht sicher, ob es ein solches Amt geben würde. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich im Stande bin, es auszuüben. Andererseits muss es jedem von uns genauso gehen. Niemand kann genau wissen, was die Arbeit im Rat erfordern wird, denn es hat sie noch nie gegeben. Somit hatte ich keinen Grund, die Wahl abzulehnen. Das wäre schlichtweg unlogisch gewesen. Der letzte Tag der Cuirm, heute, hatte das gezeigt. Was für ein sonderbarer Tag!
Die Cuirm war in diesem Weltenlauf besonders schön. Die Sonne schien und die Winde waren mild. Die Götter waren uns wohlgesonnen. Auf dieses Fest freut sich jeder Duine und nur wenige bleiben ihm fern, wenn sie aus wichtigem Grund nicht teilnehmen können. Die Cuirm ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. In diesen Tagen wird gefeiert, diskutiert, gelernt, gehandelt, finden junge Daonna einen Lehrer oder Handwerksmeister. Die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen beginnen auf der Cuirm.
Während die Kinder sich bei Spielen vergnügten und in Wettkämpfen maßen, tauschten wir Entlassenen unsere Geschichten, Ideen und neues Wissen. Es gab frische Früchte, Suppen, Brot, Kuchen und einiges an Wild und Fisch, wie in jedem Weltenlauf. Wie immer schienen fast alle Teaghlaigh vertreten zu sein. Doch eines war dieses Mal anders… Die Wahlen.
Die Wahlen waren neu und sollten nun in jedem zweiten Weltenlauf stattfinden. So haben wir es beschlossen. Jeder freie Duine, der von seinem Lehrer entlassen wurde, konnte sich an den Diskussionen zum Rat der Weisen beteiligen. Sehr viele haben das auch getan und jeder wollte seine Überlegungen und Überzeugungen kundtun. Jeder wollte ein Teil sein an diesem bedeutsamen Tag. So ging es auch mir. Zunächst.
Ich fühlte eine Mischung aus Aufregung, heiterer Zuversicht und respektvoller Zurückhaltung. Jeder würde an die Reihe kommen und zu den anderen sprechen können. Mit der Aufregung schien ich jedoch nicht allein zu sein. Es waren dann doch mehrere Daonna, die gleichzeitig sprachen, zu mehreren kleineren Gruppen, die sich spontan bildeten und auch immer wieder neu mischten. Wie oft hatte ich mit meinen eigenen Schülern in Diskussionen geübt, mit Wörtern und dem Tonfall Zeichen zu geben, dass man sich dem Ende seiner Ansprache näherte, dazu gehörten dann auch die Gesten für das nächste Wort. Und wie oft hatten manche Schüler immer wieder ihre Probleme damit, diese Zeichen bei anderen Sprechern zu erkennen. Irgendwann konnte es jeder mehr oder weniger gut, es geschah bei uns praktisch nie, dass mehr als einer gleichzeitig zu sprechen begann. Diese Disziplin war sehr wichtig für alle Arten von Gesprächen. Nur so können wir doch in Diskussionen, Debatten und sogar in Streitgesprächen die Argumente aller Beteiligten anhören und bewerten und eine sinnvolle Lösung finden.
Ich konnte nun hören, wie einige Ideen vorgetragen wurden, die genau wie meine eigenen klangen. Also dachten einige Daonna offenbar in manchen Belangen so wie ich. Nun musste ich mich nicht mehr zu diesen Gedanken äußern, auf die ich mich zunächst fokussiert hatte. Jetzt sprach sich Aluna dafür aus, der Rat der Weisen solle alle fünf Weltenläufe neu gewählt werden, damit längerfristige Entscheidungen umgesetzt werden könnten, bevor ein anders zusammengesetzter Rat diese Entscheidungen wieder revidieren könne. Sonst könne es zu einer Verschwendung wichtiger Ressourcen kommen. Das gleiche Argument hatte ich doch kurz zuvor von Edulon gehört. Edulon war Alunas Lehrer bis sie entlassen wurde. Es schien mir logisch, dass hier der Lehrer und seine ehemalige Schülerin dasselbe Argument vertraten, doch war ich mir auch sicher, dass er ihr beigebracht hatte, ein bereits gesprochenes Wort nicht unnötig zu wiederholen. Das war ineffizient.
Genau das war diese Situation geworden. Es war ineffizient. Das Verhalten bei normalen Gesprächen funktionierte nicht mehr, wir waren einfach zu viele und nicht jeder konnte jeden anderen hören. Dennoch wollte jeder sprechen. Seit der Aschenebel sich lichtete, war es das Hauptthema in der Stadt und in den Höfen geworden. Jeder Duine wusste, wie wichtig es war. Es ging um nicht weniger als die Zukunft unseres Volkes. Hier standen wir nun in einem großen, ineffizienten, ungeordneten Haufen, der unmöglich zu irgendeinem Ergebnis kommen konnte. Es war ein Chaos. Konnte das denn außer mir niemand erkennen?
Also stieg ich auf einen Tisch.
Augenblicklich sah mir Agam in die Augen, der gerade über die Größe des Rates sprach. Er hörte aber nicht mit seinem Vortrag auf. Er war überhaupt nicht irritiert davon, dass jemand auf einen Esstisch gestiegen war. Vielmehr schien er erleichtert zu sein, dass er sich nunmehr auf mich fokussieren konnte, anstatt in dem Durcheinander nach Aufmerksamkeit suchen zu müssen. Während ich noch darüber nachdachte, war es plötzlich ziemlich still. Agam war wohl am Ende seiner Ausführungen angelangt und sah mich nun erwartungsfroh an.
Tatsächlich war ich etwas verlegen, da ich nicht aufmerksam genug war, um in seinem Tonfall das Ende seines Vortrags zu erkennen. Doch nun konnte ich mich wieder an die wesentlichen Punkte erinnern: Wie wenige andere auch, vertrat er die Ansicht, dass jede Teaghlach ein Ratsmitglied stellen sollte, um wirklich das gesamte Volk zu repräsentieren. Ich war strikt gegen diese Idee, denn das hätte für den Rat der Weisen derzeit über 70 Mitglieder bedeutet. Zu viele für sinnvolle Debatten über wichtige Entscheidungen. Eine Teaghlach könnte verschwinden, neue entstehen, durch Heirat mit einer anderen verschmelzen. Hätte dann eine Teaghlach zwei Vertreter im Rat der Weisen? Sicher stünden bald die Angelegenheiten der Teaghlach im Vordergrund. Hier sollte es aber nicht nur um die Teaghlaigh gehen, sondern um das ganze Volk. Es wird in Zukunft sicherlich Entscheidungen geben, die nicht jeder Ceannard gut finden wird, die aber dem Wohle aller dienlich sein werden. Nicht die Teaghlaigh, sondern das gesamte Volk musste die Mitglieder des Rats der Weisen wählen.
Die meisten meiner Argumente gegen Agams Vorschlag wurden von der Mehrheit der Daonna unterstützt, davon war ich überzeugt.
Nun sahen mich immer mehr Augen an und es wurde wieder unruhiger. Getuschel war zu hören. Ein kurzes Gefühl der Empörung über diese Respektlosigkeit machte sich in mir breit, bevor mir wieder bewusst wurde, dass ich selbst gerade auf einem Esstisch am Rande des großen Festplatzes stand. Darüber verwirrt zu sein, war absolut akzeptabel. Von hier an übernahm nun mehr Instinkt denn Verstand meine Handlungen. Ich dankte Agam für seine Ausführung und fasste sie mit wenigen Wörtern zusammen. Als direkte Reaktion darauf hob Trogald seine Hand. Als ich ihm auffordernd zunickte, trug er sehr strukturiert die meisten Gegenargumente gegen Agams Vorschlag vor, die auch ich selbst angeführt hätte. Mir war nun klar, dass ich selbst gar nicht mehr zu diskutieren brauchte, denn die Diskussionen waren bereits geschehen, die Meinungen und Schlussfolgerungen waren klar und standen fest. Und alle waren sie richtig und gut, daran hatte ich keinen Zweifel. Meine Meinung war ebenso gut, wie die jedes anderen Duinen.
Mehr Hände hoben sich nun, als seien die Entlassenen wieder zu Schülern geworden, die zu mir, ihrem Lehrer, sprachen. Das Getuschel war längst verstummt. Ich konnte spüren, wie ich mühelos als selbsternannter Leiter dieser Diskussion anerkannt wurde und es funktionierte. Alle Daonna standen nun in einem unordentlichen Halbkreis vor mir und meinem Tisch auf dem großen Festplatz, so dass mich alle gut sehen und hören konnten. Nachdem nach Trogalds Ausführungen noch etwa sechzig Hände für Wortmeldungen zu sehen waren, so waren es vier Redner später nur noch gut ein Dutzend. Schon bald war alles gesagt und ich fasste ein letztes Mal zusammen, bevor die Zeit der Abstimmungen über alle heute vorgestellten Punkte gekommen war. Dann bat ich um Handzeichen.
Es wurde heute mehrheitlich von allen anwesenden Daonna beschlossen:
Der Rat der Weisen soll aus zwölf Mitgliedern bestehen. Seine Aufgabe soll es sein, das Volk der Daonna vor Gefahren zu beschützen, für die Vermehrung des Wissens Sorge zu tragen, sowie Wohlstand und Wachstum sicherzustellen. Die Ratsmitglieder werden in jedem zweiten Weltenlauf neu gewählt oder bestätigt. Die zwölf Weisen einigen sich danach auf ihren Luchd-Labhairt. Er ist der Sprecher des Rates und der erste Zuhörer für alle Anliegen. Sollte der Rat keine eindeutige Entscheidung fällen können, so wird es der Luchd-Labhairt tun.
Dann wurden die zwölf Weisen gewählt. Dabei wurde ich von Agam vorgeschlagen und mit großer Mehrheit gewählt. Der Rat der Weisen bestand nun aus vier Ceannardan und acht Lehrern, darunter auch ich selbst. Wir zwölf berieten nun kurz und wählten unseren Luchd-Labhairt.
Und diese Wahl fiel auf mich. Die Logik und die Ereignisse dieses Tages hatten mich überzeugt: Mich zu wählen war die bestmögliche Entscheidung.
Preantas