Nebelgeister

„Hört, Kinder der Gemeinschaft, die weitere Geschichte von Arinai’Tor, der starken Beschützerin, deren Schritte selbst der Sturm nicht aus dem Sand tilgen kann! Nachdem sie durch ein kleines Wunder den südlichen Stamm in unsere Gemeinschaft geführt hatte, trieb sie Vetter Wind weiter gen Süden. Doch bald schon blies dem Wind, der ihr zuvor den Rücken gestärkt hatte, ein eisiger Haus entgegen, Ascheflocken aus dem gefürchteten Aschenebel mit sich tragend. Am Rande dieses Nebels, dort, wo die Sonne kaum noch ihre wärmenden Strahlen durch den grauen Schleier schicken konnte, stießen sie auf ein Dorf, dessen Bewohner sich ängstlich hinter erbärmlichen Palisaden verschanzt hielten. Nebelgeister, vielleicht aus dem Aschenebel hervorgekrochen, machten die Umgebung unsicher und verwehrten den Dorfbewohnern den Weg in die Wüste, um Nahrung und Baumaterial zu sammeln.
Ein junger Krieger, Thul’Vara, „Nebelstolperer“, führte die Stammeskrieger an. Als er sah, wie Arinai’Tor und ihre Begleiter sich mutig den Geistern entgegenstellten, erwachte der Mut in ihm und seinen Stammesbrüdern, der durch vergangene Auseinandersetzungen mit den Gestalten zerrüttet war, die ihm durch sein glückloses Handeln seinen wenig schmeichelhaften Spitznamen eingebracht hatten. Gemeinsam wagten sie den Ausfall aus dem Lager und schlossen sich dem Angriff an.

Besonders Thul’Vara kämpfte wie besessen, um seinen Ruf wiederherzustellen. Er schlug um sich, wich aus und stieß immer wieder in die Reihen der Geister, so wild und ungestüm, dass selbst Arinai’Tor beeindruckt war. Seine Stammesbrüder, vom Mut ihres jungen Kriegers mitgerissen, kämpften an seiner Seite und trieben die Geister schließlich in die Flucht. Nach dem Sieg wählten die Krieger den zuvor so hart aufgezogenen Thul’Vara zu ihrem neuen Anführer, während das Lager sich in allgemeiner Einigkeit der Gemeinschaft anzuschließen beschloss. Doch der Stachel seines Spitznamens saß tief. Ungeduldig und voller Kampfeslust wollte er die Geister bis in den Aschenebel verfolgen.
Arinai’Tor erkannte die Gefahr. „Halt ein, Thul’Vara“, rief sie. „Der Aschenebel ist tückisch und gefährlich. Er verschlingt alles, was sich in ihn hineinwagt. Sei zufrieden mit dem Sieg, den du errungen hast! Deine Tapferkeit hat dein Dorf gerettet, mehr kann man von keinem Krieger verlangen.“ Thul’Vara zögerte. Die Wut auf die Geister – und über seine gerade erst überwundene Schmach – loderte noch heiß in ihm, doch die Worte der starken Beschützerin drangen zu ihm durch. Er senkte sein Schwert und nickte. „Du hast recht, Arinai’Tor“, sagte er. „Der Sieg genügt. Heute feiern wir, morgen kümmern wir uns um die Sicherung unseres Dorfes. Die Geister werden uns nicht wieder überraschen.“ Mutter Donner aber schwieg, zufrieden, dass die Kinder des Sandes den Weg der Weisheit dieses Mal ohne ihre Mahnungen gefunden hatten.
Kiran’Sol, der Strahl des Lichts, der Hoffnung und ein Ziel bringt, war dem Ruf des Vetter Winds in die entgegengesetzte Richtung gefolgt. Sein Weg führte ihn an ein gewaltiges Gebirge, dessen Gipfel in den Wolken stachen.

Am Fuß des Gebirges, dort, wo die Fallwinde, die ihn seit dem Aufbruch zu Hause begleitet hatten, am stärksten wehten, beschloss er, eine Siedlung zu errichten. „Hier bauen wir Lunai’Kareth“, sprach er entschlossen zu seinen Begleitern, „den Fuß der Himmelsstiege. Dieser Ort hier in Vetter Wind’s Umarmung am Fuß des Berges soll uns als Basislager dienen, von dem aus wir die Geheimnisse des Gebirges und den Ursprung der Winde ergründen können.“
Und so geschah es. Die Männer aus den umliegenden Zelt-Lagern machten sich ans Werk. Sie sammelten Knochen der großen Tiere der Wüste und trockneten Matten aus dem Schilf um die Wasserlöcher, die sie dann zu Hütten zusammenfügten, während die Kundschafter die Hänge des Gebirges zu erklimmen begannen, allen voran Kiran’Sol, gezogen von der Idee seiner Suche nach der Quelle des neckischen Hauchs von Vetter Wind.

Geschichtenerzähler der Sāndari’Māna, neuzeitlich

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