Ruf des Windes

„Hört, Kinder der Gemeinschaft, die Geschichte von Kiran’Sol, dem Strahl des Lichts, der Hoffnung und ein Ziel bringt, und von Arinai’Tor, der starken Beschützerin, deren Schritte selbst der Sturm nicht aus dem Sand tilgen kann, und von Thul’Vara, der seine Schmach, im Kampf gegen den belebten Nebel gewankt zu haben, vergessen machen will.“

Kiran’Sol war dem Lockruf des Windes gefolgt – zuletzt hoch hinauf in das gewaltige Gebirge, dessen Gipfel in die Wolken stachen. Beschwerlich war der Weg, und mehr als einmal mussten er und seine Gefährten ein Stück des Wegs zurückklettern und einen anderen Aufstieg suchen. Durch loses Geröll und vom steten Luftzug glatt geschliffene Felspartien erkämpften sie sich ihren Weg, den Spott und die Verlockungen des Windgottes stets in den Ohren. Hochnebel und Wolken, in der Wüste ein seltener Anblick, nahmen ihnen die Sicht und den Atem. Schließlich, am Ende seiner Kräfte, zog Kiran’Sol sich auf ein Plateau über der Wolkendecke. Hier blies ihm der Wind nicht mehr ins Gesicht, sondern spielte lustig in alle Richtungen umher und trieb kleines Gestein und Sand bald hierhin, bald dorthin. >>So muss der Ruheplatz von Vetter Wind aussehen, der in seiner Ruhelosigkeit hier doch keine Richtung mehr verfolgt<<, schoss es ihm durch den Kopf, und er nannte das Gebirge nach dieser Eingebung Arai’Shan.
Ehrfürchtig in der unsichtbaren, doch umso mehr fühlbaren Präsenz des Windgottes ward beschlossen, ihm an dieser Stelle einen Schrein zu errichten und Bewohner aus dem Hochland unterhalb zu rufen, die hier siedeln und Vetter Wind huldigen sollten. Als Kiran’Sol aber mit eigener Hand den Grundstein legte, zerriss eine jähe Böe den Schleier der Wolken ringsumher, und der Blick des Lichtstrahls, des Kiran’Sol fiel zuerst auf eine Gebirgsquelle in einigen Entfernung und dann auf eine weite Ebene unterhalb des Gebirges, in der unvorstellbare Mengen an Grün von saftigen Steppengründen kündeten. Die Lüfte brausten in seinen Ohren, und er fühlte, wie sie ihn am Gewande weiterziehen wollten, und so sprach er: >>Ich höre, Vetter Wind, Deinen Ruf, Deine Einladung, und ich nehme sie an. Ich gelobe: Was Du mir heute zeigtest, ich will es erkunden und bereisen Dir zur Ehre und Freude.<<

Arinai’Tor indes hatte der Wind an einen Ort geführt, von dem aus sie seinem Zug nicht folgen konnte. Aschenebel versperrte den weiteren Weg, und so erkannte sie, dass der listige Schelm sie nicht etwa auf ein Abenteuer ausgesandt hatte, sondern sie zur Rettung und zum Schutz des Dorfes am Rande des Nebels geschickt hatte. Und wie es ihr mit dem Namen in die Wege gelegt worden war, entschied sie, auch weiterhin den Schutz der Gemeinschaft als ihre erste Aufgabe anzunehmen.

Der junge Thul’Vara, den ihre Worte vor dem Marsch in die Aschnebel bewahrt hatten, sah sich durch ihr Beispiel inspiriert. >>Auch ich will zum Schutz meines Dorfes beitragen, auf dass die Nebel nicht unbeobachtet bleiben und keine ihrer geisterhaften Bewohner meine Sippe überraschen können. Darum will ich den Gipfel am Rande des Nebels ersteigen und dort eine Wacht errichten, die Aschewacht Thul’Arai’Tor, und von hier soll uns zu jeder Zeit ein wachsames Auge und eine laute Stimme warnen, wann immer er seine Kreaturen auszuspeien beginnt.<<

Arinai’Tor, die dies vernahm, erblühte in Stolz in Freude. >>Sieh die verlassene Siedlung auf der sandigen Hochebene am Fuße Deines Gipfels im Nebelstahlgebirge, junger Krieger! Der Ort wird Kāla’Mana’Thul genannt, weil die vergangenen Bewohner sich in der Geschichte verloren haben wie Seelen im Nebel. Von hier soll Deine Wacht versorgt werden, auf dass durch Dich die Gesellschaft einen weiteren Beschützer erhalte und Dein Name nicht mehr „der im Nebel stolpernde“ bedeute, sondern „der die Kreaturen des Aschenebels stürzt“. Und sie nahmen als Bruder und Schwester im Geiste Abschied von dem Dorf und von einander, vereint in dem Streben, das uns alle vereint: Die Gemeinschaft zu schützen und zu erhalten.

Geschichtenerzähler der Sāndari’Māna, neuzeitlich

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