„Hört, Kinder der Gemeinschaft, die Geschichte von der Geburt unserer Welt, von Rih’Sol, der väterlichen Sonne, von Ina’Rai, dem mütterlichen Donner, von Kāla’Arai, dem Wassergeist, und Vetter Wind, und wie ihre Liebe und ihr Streit die Welt formten, die wir kennen!
Vor langer Zeit, als die Welt noch jung war, war Darshiva von einem gewaltigen Ozean bedeckt. Das Wasser erstreckte sich von Horizont zu Horizont, und nichts als Wasser war zu sehen. In diesem Ur-Ozean lebte Kāla’Arai, der Wassergeist, wild und ungezähmt, ein Wesen von immenser Kraft, und er war der Ozean, und der Ozean war er.
Rih’Sol, der damals junge Sonnengott, blickte auf diese Wasserwelt und fand sie leer und leblos. „Was nützt all das Wasser“, sprach er, „wenn kein Leben sich darin entfalten kann?“
Voller Tatendrang beschloss er, die Welt zu verändern. Mit seinen glühenden Strahlen begann er, den Ur-Ozean zu erwärmen und das Wasser zu verdunsten. Langsam zog sich das Wasser zurück und gab Land frei, trocken und unfruchtbar.
Kāla’Arai, der Wassergeist, wurde zornig. Er peitschte die Wellen auf und schickte gewaltige Stürme, um Rih’Sol zu vertreiben, doch Rih’Sol war unnachgiebig und von der unbändigen Kraft seiner Jugend erfüllt. Sein Wille zur Schöpfung war so stark wie seine Strahlen. Mehr und mehr trocknete er den Ozean aus, bis nur noch vereinzelte Wasserläufe und Oasen übrigblieben, und sein Geist, Kāla’Arai litt grausame Qualen, während die Sonne sein Selbst in Dampf auflöste. Ina’Rai, die Donnergöttin, sah sein Leid und die Gefahr, die der Welt drohte. Sie liebte die Sterblichen, die zaghaft begonnen hatten, sich auf dem neugeborenen Land auszubreiten.
Sie wusste, dass ohne Wasser alles Leben verdorren würde. Mit einem gewaltigen Donnerschlag, der die Himmelsstiege erzittern ließ, stellte sie sich Rih’Sol entgegen. „Genug!“, donnerte ihre Stimme über die ausgedörrte Welt. „Deine Schöpfung ist schön, Rih’Sol, aber ohne Wasser ist sie dem Tode geweiht!“ Rih’Sol erkannte die Weisheit in Ina’Rais Worten.Er hatte sich von seinem Eifer blenden lassen und die Bedürfnisse der Sterblichen vergessen. Reuevoll zog er seine Strahlen zurück und ließ die Sonne sanft auf die Welt scheinen, die der Ur-Ozean freigegeben hatte.
Dankbar und beeindruckt von der Kraft, mit der Ina’Rai die Welt und ihre Bewohner verteidigt hatte, entbrannte der junge Gott in heftiger Liebe zu ihr, und auch sie konnte nicht umhin, seinen Tatendrang und seine Entschlossenheit zu bewundern, und sie wollten Mann und Frau werden.
Doch das einzige Wesen, dem es zustand, ihnen diesen Segen zu spenden, war zu jener Zeit Kāla’Arai, dessen Macht geschwächt, doch immer noch nicht unbeträchtlich war. Er zürnte Rih’Sol und wollte nichts davon wissen, ihm seinen Willen zu lassen. Und wäre nicht Vetter Wind, der launenhafte Schelm, gerührt gewesen von dem unglücklichen göttlichen Paar, sie würden sich noch heute erfüllungslos nach einander verzehren.
Er zeigte dem Geist ein Trugbild eines großen Ozeans in der Entfernung und lockte ihn so weiter und weiter eine dünne Wasserader entlang in die Wüste, die den Sāndari’Māna zur Heimat geworden war, bis dieser ein Wasserloch erreichte. Bitzgeschwind verschüttete Vetter Wind den Rückweg mit Wüstensand, so dass Kāla’Arai festsaß – betrogen um den großen Ozean, der die ganze Zeit sein eigen Spiegelbild gewesen war, in höchster Not, mit dem Wasserloch auszutrocknen.
In seiner Not erklärte er sich bereit, Vater Sonne und Mutter Donner zu trauen, und er machte sie zu Mann und Weib, und erklärte die Sāndari’Māna stellvertretend für alle Sterblichen zu ihren Kindern. Und auch um den wütenden Geist zu besänftigen fand Vetter Wind die rechten Worte: „Bedenke, großer Geist, dass nicht Gold, noch Purpur, edle Steine oder Gewürze bei diesem Volk den höchsten Wert haben werden – nein, am höchsten werden sie stets das ehren, was ihnen das knappste Gut ist, das sie zum Leben benötigen. Deine Gaben werden sie suchen, und an Deinen Oasen werden sie Rast und Einkehr finden.“
Da war Kāla’Arai besänftigt, und nach der göttlichen Ehe wurde auch der Friede zwischen den Göttern besiegelt und der Geist wieder in seine eigene Welt gebracht. Und so erinnern wir uns an die Geschichte von Sol’Rai und Ina’Rai, an ihre Liebe und ihren Streit, an die Schöpfung und die Zerstörung, an die Geburt unserer Welt und die Lektion, dass alles Leben Wasser braucht. Und solltest Du Dich jemals fragen, wieso Vater Sonne und Mutter Donner den kleinen Schelm, Vetter Wind, so oft mit seinen Launen gewähren lassen, nun, so denke an diese Geschichte…“
Geschichtenerzähler der Sāndari’Māna, neuzeitlich
