Wundersame Beobachtungen im fremden Tal

Ein Bericht aus der Feder Waidfried Güldenhaags im 2. Mondlauf der Dämmerung

Im vergangenen Vne Thall aus dem 1. neuzeitlichen Mondlauf veröffentlichte ich ein Abbild meines Gemäldes von einer seltsamen Festung in einem mir bis dato unbekannten Tal (siehe: “Das fremde Tal”, 1. Ausgabe des Buches der Zeit, Seite 33). Seitdem habe ich einige Zeit in dieser Gegend verbracht und wahrlich Ungewöhnliches zu Tage gefördert, welches ich als durchaus berichtenswert erachtete:
Zunächst verbrachte ich einige weitere Sonnenläufe in jenem Tal, durchwanderte die Hänge rings um die Felsinsel, auf welcher jenes merkwürdige Bauwerk in die Höhe ragte. Das Fernrohr, welches ich mit mir führe, ist von mäßiger Qualität und ich konnte nur bedingt Einblicke erhaschen, was sich wohl im Inneren des schlossartigen Kastells abspielen könnte. So kam ich nach dieser tagelangen Beobachtung zum Schluss, dass es keine Bewohner zu geben schien. Weder in noch um das Bauwerk konnte ich ein lebendes Wesen erblicken – einige Vögel ausgenommen, welche auf den Zinnen ihre Nester errichtet hatten.
Das seltsame an dieser Tatsache war, dass die Festung nicht heruntergekommen erschien. Ich konnte kaum fehlende Ziegel ausmachen und nur eine der kleinen Fahnen auf den Spitzdächern schien mir ernsthaft zerschlissen zu sein. Meine Schlussfolgerung war, dass diese Burg erst vor wenigen Mondläufen verlassen worden sein musste.
Immer mehr Verwunderung keimte in mir auf während meiner weiteren Entdeckungen. Zunächst erkannte ich, dass das Bauwerk an manchen Stellen wahrlich mit dem Berg und seiner Flora verwachsen schien. Ich kann nicht recht sagen, ob dies beim Bau beabsichtigt gewesen war. Es erschien mir eher willkürlich, wie mancherorts große Bäume einen Zugang oder Fenster versperrten. Und hier und da entdeckte ich schließlich doch auch Risse im Mauerwerk an Stellen, an welchen spitzere Felsen emporragten, als hätten sich diese nachträglich mit Gewalt in den Burgwall hineingetrieben. Das seltsamste war jedoch die Erkenntnis, dass es sich bei jenem großen Torbogen, welchen ich zunächst für einen kunstvollen Durchlass für den Fluss, welcher offenbar einer Quelle direkt unter der Burg entsprang, gehalten hatte, tatsächlich um den Haupteingang zum Vorhof handeln musste. Als ich weit genug um die Felsinsel herumgewandert war, um mit meinem Feldstecher durch jenes Tor zu blicken, entdeckte ich einen gepflasterten Innenhof, welcher inmitten wie durch das emportretende Gewässer zerrissen wirkte. Das Wasser hatte offenbar viele der Pflastersteine hinweggespült und sich seinen Weg des geringsten Widerstands durch das Eingangstor gebahnt, von wo es in Ermangelung eines tatsächlichen Weges, welcher der Logik nach für gewöhnlich zu einem solchen Burgtor führte, in einem Fall den Fels hinabstürzte.
Mein Interesse, auf jene Insel zu gelangen, wuchs stetig mit jeder Entdeckung – doch ohne Boot und gutes Kletterzeug ein aussichtsloses Unterfangen. Ich wusste, dass unweit des Tals auf der anderen Seite des Bergkamms eine kleine Siedlung lag, welche ich auf meinem Weg bereits besucht hatte. So entschloss ich dorthin zurückzukehren, um vielleicht von den Bewohnern mehr über dieses Tal und die Festung zu erfahren. Und im besten Falle eine Möglichkeit zu finden, auf die Insel zu gelangen. Das Mysterium um das Tal und die Festung wurde durch die Bewohner der Siedlung gleichermaßen geklärt wie auch erneuert. Offenbar war bislang niemand in das Tal gewandert, da dieses vollständig von Aschenebel erfüllt gewesen war. Auch die Burg hatte bislang noch niemand erblickt. Dies erklärte einerseits den Umstand, dass dort niemand wohnte, machte es andererseits umso merkwürdiger, dass das Bauwerk stellenweise in derart gutem Zustand war und nicht an eine Ruine erinnerte, welche seit Generationen vom Aschenebel umhüllt gewesen war.
Die Hilfsbereitschaft der Bewohner war zaghaft, um es wohlwollend zu schildern. Die Zeit der Entbehrungen, der Isolation und der Angst vor dem Aschenebel saß den Leuten sichtlich in den Knochen. Und so brauchte es einige Überzeugungskraft und die eine oder andere klingende Münze, um drei der Anwohner für mein Unterfangen zu gewinnen, ein Floß am Ufer des Gewässers um die Insel zu bauen und den dortigen Steilhang mit Seilen und Steigeisen zu erklimmen. Doch es sollte ohnehin anders kommen, als ich es mir erdacht hatte.
Am späten Nachmittag des nächsten Sonnenlaufs, als wir bereits zur Hälfte in das Tal hinabgestiegen waren und ich während einer kurzen Rast meinen Feldstecher hervorholte, um erneut die geheimnisvolle Felsinsel zu betrachten, erblickte ich etwas: eine leichte Bewegung hinter den Mauern der Burg. Ich rieb meine Augen und säuberte die Linse meines Fernrohrs, um sicherzustellen, dass es nicht nur Schmutz oder eine Trübung des Glases gewesen war. Ich blickte erneut hindurch und erkannte eine blasse Gestalt in seltsam wabernden Gewändern. Erneut setzte ich den Feldstecher ab, und ging in mich, ob mir nicht meine Fantasie einen Streich spielte und mich hier wilde Geistergeschichten aus meiner Kinderstube eingeholt hatten. Wieder blickte ich hinüber, doch es gab keinen Zweifel: Irgendetwas – oder besser: irgendjemand – war dort drüben. Wie bereits erwähnt, konnte ich aufgrund der unzureichenden Qualität der Fernsichthilfe nur Verschwommenes erkennen. Um gänzlich sicher zu gehen, dass ich mir dies nicht nur einbildete, reichte ich einem meiner Begleiter das Fernrohr und dieser bestätigte meine Entdeckung. Mehr noch: Urplötzlich überkam ihn eine Panik. Ich nahm den Feldstecher selbst wieder zur Hand und schaute zur Burg hinüber. Dichter gräulicher Nebel quoll aus den Türen und Fenstern hervor, ergoss sich über den Boden der Insel und formte dort weitere dieser Gestalten. Wild kreischend stachelte der Mann die beiden anderen dazu auf, sofort das Weite zu suchen und in die Sicherheit der heimischen Siedlung zurückzukehren. Meine Widerworte halfen nichts – zumal ich selbst ernsthaft bezweifelte, ob es wirklich noch eine gute Idee war, dorthin überzusetzen. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich den Dreien anzuschließen. Mir schien, als könne ich hier nichts mehr verrichten.
Auf dem Weg blickte ich immer wieder durch das Fernrohr. Die Gestalten bewegten sich sonderbar, fast wie die Nebelschwaden aus welchen sie sich geformt hatten. Trotz meiner nicht zu leugnenden Angst hätte ich sie gerne von Nahem gesehen, um herauszufinden, was dies für Gestalten waren. Womöglich wird sich eines Tages in meiner Heimat eine Delegation von mutigen Recken finden, welche diesen Ort genauer untersucht.
Tags drauf begann ich im Schutze des kleinen Bergdorfes ein Bild, welches sicher mehr meiner Einbildungskraft und den unruhigen Träumen der vorangegangenen Nacht entsprang, als dass es die Wahrheit widerspiegelt. Dennoch lege ich es diesem Bericht bei, um es mit der Welt zu teilen.

“Nebelwesen im fremden Tal”
Gemälde von Waidfried Güldenhaag im 2. Mondlauf des 1. Weltenlaufs der Dämmerung

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